Menschliches Versagen

Eine Filmkritik von Marie Anderson

Jemals alles über die Schrecken und Verbrechen der Zeit des Nationalsozialismus ans Licht zu bringen, wird letztlich nicht möglich sein, doch es gibt immer noch Bereiche, die auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch dringend aufgedeckt werden müssen. Der Komplex um die so genannte Arisierung zählt zu den kaum aufgearbeiteten Feldern, da zahlreiche der entsprechenden Akten erst seit ein paar Jahren überhaupt einsehbar sind – sofern sie noch existierten. Eine treibende Kraft hinter diesen späten Enttabuisierungen war der Historiker Wolfgang Dreßen, der eine Wanderausstellung zu diesem Thema organisierte und in der Dokumentation Menschliches Versagen von Michael Verhoeven darüber berichtet, wie es zur Öffnung der Aktenbestände kam.
Auf seine Anfrage bezüglich von Dokumenten zu den Enteignungen jüdischer Menschen während der NS-Zeit hin erhielt Professor Wolfgang Dreßen, der bis vor kurzem noch die „Arbeitsstelle Neonazismus“ an der Fachhochschule Düsseldorf leitete, von den Oberfinanzdirektionen Köln und Düsseldorf die Antwort, dass darüber keine Akten (mehr) vorhanden seien – Informationen, die sich jedoch bald als gegenteilig erweisen sollten. Denn auf Grund eines anonymen Anrufs aus der Oberfinanzdirektion Köln insistierte der Historiker erneut, mit dem Ergebnis, dass er daraufhin noch Berge von bisher verborgenen Ordnern zu den Enteignungen der Juden sichten konnte – ein Indiz dafür, wie auch über ein halbes Jahrhundert nach Ende des so genannten Dritten Reiches mit den Zeugnissen der damaligen Verbrechen umgegangen wird.

Durch die Recherchen und Ausstellungen von Wolfgang Dreßen zu diesem Themenkomplex berührt drehte der Regisseur Michael Verhoeven (Das schreckliche Mädchen, 1989) eine erschütternde Dokumentation über die so genannte Arisierung jüdischen Eigentums. Menschliches Versagen rekonstruiert den Verbleib von Hab und Gut der jüdischen Bevölkerung und zeichnet damit einen gewaltigen Raubzug nach, der dem NS-Regime über acht Milliarden Reichsmark einbrachte. Neben Wolfgang Dreßen kommen unter anderem die Historiker Götz Aly und Andreas Heusler, der Schauspieler August Zirner und die Holocaust-Expertin Cornelia Muggenthaler sowie Stimmen betroffener Familien und Zeitzeugen zu Wort, die auf eindringliche Weise die wirtschaftlichen und persönlichen Auswüchse der bürokratischen Stigmatisierung und der gezielten Ausbeutung schildern und dabei einige zuvor kaum bekannte Aspekte darstellen.

Vor allem die rege Beteiligung und Bereicherung des deutschen Volkes an den Enteignungen so genannten nicht arischen Eigentums steht dabei im Fokus – eine Komponente, die bisher allzu gern vernachlässigt wurde. Hier wird die Verantwortung des Einzelnen, der erhebliche materielle Vorteile aus den Beutezügen zog, ins Zentrum der Betrachtungen gerückt und somit die festsitzende Vorstellung vom allmächtigen Obrigkeitsstaat demaskiert. Es waren nicht selten Nachbarn, die von den Versteigerungen des Besitzes jüdischer Familien profitierten, die sich in einer als „Goldgräberstimmung“ charakterisierten Jagd auf Schnäppchen an dem Elend der Juden bereicherten. Es ist dieses Versagen der Menschen, auf das der Titel hinweist, die moralische Dimension einer verbrecherischen Komplizenschaft, der Michael Verhoeven in seiner Dokumentation nachgeht, die mit ausführlichen interessanten Extras auch zur Wanderausstellung „Deutsche verwerten ihre jüdischen Nachbarn“ ausgestattet ist. Menschliches Versagen stellt einen ebenso bedrückenden wie immens wichtigen Film dar, der einen schaurigen Blick auf die Tendenzen zur unreflektierten und skrupellosen Bereicherung wirft, die sich wie selbstverständlich unter dem Deckmantel einer bürokratischen Verordnung vollzieht.

Menschliches Versagen

Jemals alles über die Schrecken und Verbrechen der Zeit des Nationalsozialismus ans Licht zu bringen, wird letztlich nicht möglich sein, doch es gibt immer noch Bereiche, die auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch dringend aufgedeckt werden müssen.
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