Leviathan (2012)

Eine Filmkritik von Festivalkritik Locarno 2012 von Beatrice Behn

Die zweite Befreiung der Kamera

Als die Bilder laufen lernten und Film als neues Medium entstand, noch bevor es zur Kunstform wurde, ging es lange Zeit darum, seine technischen Möglichkeiten kennen und nutzen zu lernen. Einer der Dreh- und Angelpunkte dieser Zeit war die Entwicklung der Kamera. Zuerst waren diese so große und unbewegliche Apparate, dass das filmische Bild immer einem unbeweglichen Tableau entsprach. Dies schlug sich in der Ästhetik nieder, die sehr an Theateraufführungen erinnerte. Die Entwicklungen kleinerer und beweglicherer Kameras löste eine Revolution, ja geradezu eine Euphorie aus, die den Filmemachern ganz neue Freiheiten in ihrer Bildsprache zur Verfügung stellte. Kameraschwenk, Kamerafahrten etc. sind heutzutage so alltäglich, dass wir sie als Zuschauer kaum noch wahrnehmen.
Mit der digitalen Revolution hat sich die Kameratechnik nochmals drastisch weiterentwickelt und Filmemacher aus der ganzen Welt arbeiten inzwischen mit den wunderbaren neuen Mitteln der digitalen Technik. Doch bisher hat niemand die Möglichkeiten dieser neuen Technik so raffiniert ausgenutzt, wie die Macher von Leviathan Lucien Castaing-Taylor und Véréna Paravel. Der Dokumentarfilm beobachtet die Arbeit von Hochseefischern, die auf dem Meer ihre knochenharte Arbeit verrichten. Es wird kaum gesprochen, Boot, Fische, Menschen, Technik — alles ist eins und verschwimmt zu einem Gesamtschauspiel aus Mensch, Natur und Maschine. Der Film erzählt keine Geschichte als solche, sondern versucht einfach nur zu beobachten und die Bilder selbst erzählen zu lassen.

Und eben hier kommt die neue Art der Kameraarbeit ins Spiel. Die beiden Filmemacher haben diese an vielen Orten auf dem Boot platziert, jedoch nicht in der gewöhnlichen Art und Weise: Manche der Fischer tragen Helmkameras, die dem Zuschauer einen subjektiven Blickpunkt erlauben, andere Kameras sind an Arme oder Beine geheftet. Doch damit nicht genug: Auch das Boot an sich und die Natur bekommen ihre Chance aus ihrer Perspektive zu berichten. Die mit Abstand beeindruckendsten Bilder „liefern“ die Netze und die toten Fische. Es ist wohl das erste Mal in der Geschichte des Films, dass eine Kamera aus der subjektiven Sicht eines Fisches berichtet — umso faszinierender sind die Bilder, die geliefert werden, wenn die Kamera zusammen mit den toten Fischen auf dem Boden eines Bottichs schwimmt, hin und her getragen vom Meergang, der das Boot erschüttert. Noch betörender ist der Blick auf die fliegenden Möwen, die dem Kutter folgen, aufgenommen aus der „Sicht“ eines Fischernetzes, das halb im Wasser, halb in der Luft hängt.

Leviathan löst aber nicht nur Faszination aus. Die Möglichkeit, Kameras dazu zu nutzen, die Subjektivität von Tieren und Gegenständen zu verdeutlichen, macht auch ganz eindeutig klar, welche Macht das Kino (immer noch) hat und wie viele Möglichkeiten diese Kunstform bislang noch nicht ausschöpfen konnte. Nach wie vor gibt es viel zu entdecken — Leviathan ist ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zu einer Neuentdeckung dieses Mediums. Ein bisschen müssten sich so auch die Zuschauer der Brüder Lumière gefühlt haben, als sie die ersten Projektionen bewegter Bilder sahen. Und noch etwas wird klar: Diese Art von Kunst lebt von großer Projektion in einem stillen Raum — dem Kino. Die wahre Größe und pure Schönheit von Leviathan würde niemals bei einer schnellen Sichtung auf DVD ersichtlich werden.

(Festivalkritik Locarno 2012 von Beatrice Behn)

Leviathan (2012)

Als die Bilder laufen lernten und Film als neues Medium entstand, noch bevor es zur Kunstform wurde, ging es lange Zeit darum, seine technischen Möglichkeiten kennen und nutzen zu lernen. Einer der Dreh- und Angelpunkte dieser Zeit war die Entwicklung der Kamera. Zuerst waren diese so große und unbewegliche Apparate, dass das filmische Bild immer einem unbeweglichen Tableau entsprach.
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