Landstück

Eine Filmkritik von Simon Hauck

Wendemanöver

Beinahe unwirklich sieht sie aus: die Uckermark. Ein Landstrich in Deutschland, der nicht gerade für seinen turbulenten Alltag oder hektische Hudelei bekannt ist. Im Gegenteil: Hier sagen sich – gerade seit der deutschen Wende von ‚89 – Fuchs und Hase gute Nacht. Botho Strauß lebt hier, der einsamste Wolf aller deutschen Großschriftsteller. Legendär sind dessen Spaziergänge wie literarische Ergüsse zu dieser besonders ruhigen Landoase nordöstlich von Berlin, mit der sich schon seit jeher Künstler wie Fontane in ihrem Werk auseinandergesetzt haben: „Ich liebte diese hohen Himmel“, heißt es da beispielsweise aus dem Munde des berühmten preußischen Sohns. „Und sorglos hab ich gesammelt, nicht wie einer, der mit der Sichel zur Ernte geht, sondern wie ein Spaziergänger, der einzelne Ähren aus dem reichen Felde zieht“, wird konsequenterweise Fontane direkt dazu im Pressheft zu Landstück zitiert.
Derselbe Satz kann jedoch sehr wohl auch auf die dokumentarische Handschrift des renommierten Filmemachers Volker Koepp umgemünzt werden: Seit vielen Jahrzehnten beschäftigt sich der gebürtige Stettiner geradezu passioniert mit seinen regionalen Wurzeln, z.B. in Das weite Feld von 1976 oder zuletzt in Uckermark von 2002.

Wie Fontane im 19. Jahrhundert zieht er seit mehreren Jahren – wie ein stiller Passant, der den Einheimischen den Vorzug gewährt – durch das nordöstliche Land der Mark Brandenburg, das sich weit bis in Teile Mecklenburg-Vorpommerns erstreckt. Selbst in dieser abgelegenen, historisch bis heute dünn besiedelten Kulturlandschaft zwischen der deutschen Hauptstadt, Prenzlau und Stettin ist nunmehr die Globalisierung angekommen: „Zur Fröhlichkeit besteht objektiv kein Grund“ (Theodor W. Adorno) schießt es einem da schnell durch den Kopf.

Denn der große Ausverkauf steht hier nicht bevor, sondern er ist bereits im Gange! „Also ein Bauer verkauft kein Land“, meint einer der befragten Landwirte gegenüber der Kamera. „Wer Bio macht, muss mehr Leute anstellen“, antwortet später ein anderer dem erfahrenen Ex-DEFA-Mann Koepp. Und zwar trocken, mitunter richtig nüchtern – genauso wie Landstück als Film im Grunde auch montiert (Schnitt: Christoph Krüger) ist. Dann entlockt aber Koepp seinen Protagonisten wieder an anderer Stelle – im vertrauten Ich-Und-Mein-Gegenüber-Plauderton – so wunderbare O-Töne wie den folgenden: Landschaftliche Schönheit und Geschlossenheit „lassen sich eben nicht mit Wechselkursen aufrechnen“.

Keinesfalls abgeklärt, sondern quasi live suchend nähert sich Koepp ein weiteres Mal Land und Leuten der ihm stark vertrauten Region. Bauern, Nachbarn, Einheimische wie Zugezogene haben bei ihm das Wort. Stark verwurzelte Dorfbewohner kommen ebenso an die Reihe wie besorgte Bio-Landwirte und renommierte Umweltschützer. Seit der deutsch-deutschen Wende von 1989 und der Zerschlagung der ehemals staatseigenen Großbetriebe geht es in diesem stillen Stückchen Deutschland um die Wurst: Die kommt zum Beispiel vom gigantischen „Wiesenhof“-Konzern, der sich vor kurzem ebenfalls hier „angesiedelt“ hat, wie das im Wirtschaftsamtsdeutsch so heißt.

Gerade hier: in zartester Naturidylle – in einer Landschaft mit einem besonders hohen Anteil an nachhaltig und ökologisch wirtschaftenden Höfen. Ausgerechnet hier wird seit kurzem qualitativ minderwertigstes Hühnerfleisch produziert. „Das ist billiger als Hundefutter!“, erläutert Prof. Succow, einer der politisch engagierten Umweltexperten, gegenüber der Kamera, ehe er sich wenige Momente später erregt von derselben abwendet: Die Uckermark kippt. Das wird schnell klar in Koepps Regie, ohne dass er dafür reine Zahlenkolonnen oder unverständliche Expertenkauderwelsch-Statements heranziehen müsste, zum Vorteil des Films.

Schließlich wird der Ackerboden im Osten des Landes immer begehrter – und gleichzeitig knapper: Neben dem grünen Tourismus haben längst auch an sich branchenfremde Investoren oder gar ortsfremde Finanzspekulanten dieses weitestgehend gesunde „Landstück“ für sich und ihre Geldgeber entdeckt – zum großen Unmut des Gros’ der Landbevölkerung wie vieler ansässiger Bauern. Die neue „Lust am Land“ lautet vielerorts die Devise – mit völlig konträren Auswirkungen: Um Acker- statt Betongold werben jene Finanzjongleure, die in Zeiten von Euro-Krise, historisch besonders niedrigem Zinsniveau und der notorischen Inflationsangst der Deutschen in Ost und West landauf, landab auf gegenwärtig besonders offene Ohren stoßen.

Im Endeffekt schraubt sich so das Preislevel für Landflächen im Osten der Republik immer weiter nach oben: in bisher ungeahnte Höhen. Das liegt zum einen am vergleichsweise noch hohen Landflächenvorrat in den neuen Bundesländern, der sich sogar heute noch zum Teil auf die ehemaligen LPG-Strukturen der längst untergegangen DDR stützt. Zum anderen aber auch an der ökonomisch zunehmenden Bedeutung von Windrädern, Tiermastbetrieben, Monokulturen oder Biogasanlagen, die – unterstützt vom deutschen Landwirtschaftsministerium – schließlich auch irgendwohin müssen.

Was im ersten Moment nur logisch klingt in einem kapitalistischen Wirtschaftssystem, ist langfristig prognostiziert die nächste große ökologische Katastrophe für die Uckermark. So klingt das vorzeitige Fazit vieler Menschen, die Koepp in gut 70 gedrehten Interviews vor seine Linse gebracht hat. Umso bitterer ist das für eine Gegend, die doch seit dem Untergang der DDR in vielen Teilen mustergültig re-ökologisiert worden war.

Gerade auf dieses Paradoxon fokussiert sich Volker Koepp in Landstück: Denn einerseits gehören die brandenburgischen Agrarflächen mit gut 10 % Ökolandbau zu den ladwirtschaftlichen Vorzeigeregionen im wiedervereinigten Deutschland. Andererseits verdienen Biobauern nach wie vor in der Regel gut ein Drittel weniger als ihre konventionell arbeitenden Kollegen – und parallel werden immer mehr Ökowaren aus dem Ausland importiert, zum Nachteil der deutschen Landwirte: Hier beißt sich die Katze wirklich in den Schwanz.

Zugleich lädt Koepps Blick herrlich unaufdringlich ein, die ansässigen Familien wie die Sydows oder die Pophals näher kennenzulernen. Wobei auch der Humor nicht zu kurz kommt: „Dort hinten liegt Afrika! Ja, da gibt es wirklich einen kleinen Weiler, der Afrika heißt“, sagt einer der Ansässigen – und schmunzelt Koepps Kamera zu. „Die Zeit vergeht aber auch so schnell“, murmelt eine der alten Damen an anderer Stelle vor sich hin. Sie ist eine der wenigen Bewohnerinnen, die immer noch hier ist: nach der DDR-Sozialisation, dem deutschen Wendemanöver, dem Wegzug der eigenen (Enkel-)Kinder … Und im selben Moment strahlt sie eine große menschliche Würde aus. „Wir mussten viel arbeiten … Wir haben aber auch immer wieder mal schön einen draufgemacht“, raunt ihr eine andere, ebenfalls ältere Freundin daraufhin zu; ein tatsächlich beglückender Augenblick ist das in Volker Koepps elegischer Bestandsaufnahme in Menschheits- und Naturfragen namens Landstück. Wie erwähnt, mit durchaus spontanem Witz: „Der hat sich totgeschossen“, meint eine der Damen aus diesem Kreise sarkastisch zum glücklosen Schicksal eines Landkäufers, der eben nicht aus der Gegend stammte.

Hier ist er wieder, der Volker-Koepp-Stil, exemplarisch vorgeführt: Er lässt die Menschen anstelle des Regisseurs sprechen. Locker, alltäglich – und im besten Sinne möglichst authentisch, auch wenn es dieses Gebot in einem echten Dokumentarfilm natürlich stets nur ansatzweise geben kann. Trotzdem gelingt dies Koepp hier auf mannigfaltige Weise – und sehr redlich. Das ist sicherlich nicht jedermanns Sache, aber handwerklich absolut gekonnt. Ergänzt durch eine Reihe kluger O-Töne des Biologen und Agrarwissenschaftlers Michael Succow, einem Träger des Alternativen Nobelpreises von 1997, gelingt dem renommierten Dokumentarfilmer eine gleichsam poetische wie leise mahnende Ode an seine Heimat: die Uckermark.

In jener Methode lässt Volker Koepp die Menschen – wieder einmal – in einem seiner Filme sprechen: Direkt in die Kamera, ziemlich schnörkellos, gleichsam begleitend wie beobachtend – und selten wertend. Diese klug-lässige Herangehensweise funktioniert speziell in Landstück über weite Strecken wunderbar. Untermalt von Ulrike Hages gewohnt berührenden Kompositionen (diesmal vorwiegend im Streicher- und Pianosegment), formt Koepp daraus ein von Grund auf ehrliches, sehr authentisches Mensch-Natur-Panorama, eine Art Liebeserklärung an seine eigene, immer weiter bedrohte Heimatregion: Da menschelt es gewaltig, zwangsläufig – und aufrichtig.

Hier dürfen die sichtlich zufriedenen Kühe minutenlang in die Kamera muhen. Da dürfen die pittoresken Flüsse und Sehen leise vor sich hinplätschern. Dazwischen grunzen gesunde Schweine auf Einstreu und Strohbergen vor sich hin. Naturgemälde wie von Caspar David Friedrich, den Koepp selbst zitiert, tun sich gleich an mehreren Stellen vor dem Auge des Betrachters auf: Goethes „Edle Einfalt, stille Größe“ in Grün könnte man dazu auch sagen. So imposant, zur Muße rufend, stehen die prächtigen Landschaftstotalen von Lotte Kilian auf der Leinwand, die zum ersten Mal mit Koepp zusammenarbeite – und vorher schon Tatjana Turanskyis Top Girl fotografiert hatte.

Im selben Moment schrumpft der Zuschauer gleich noch mehr in seinem Sessel zusammen: Was bin ich bloßes Menschlein am Ende gegenüber einer tausend Jahre alten Kulturlandschaft? Der Entscheider. Ganze zwei Stunden nimmt sich der Berliner Regisseur dafür Zeit. Und Zeit muss man sich auch dafür nehmen (können), viel Zeit. Dann kann das nachhaltige Wendemanöver auf der Leinwand beginnen. Bis zu Koepps nächstem Film – bestimmt wieder aus der Uckermark. Hoffentlich. Dem Schöpfer sei Dank!

Landstück

Beinahe unwirklich sieht sie aus: die Uckermark. Ein Landstrich in Deutschland, der nicht gerade für seinen turbulenten Alltag oder hektische Hudelei bekannt ist. Im Gegenteil: Hier sagen sich – gerade seit der deutschen Wende von ‚89 – Fuchs und Hase gute Nacht. Botho Strauß lebt hier, der einsamste Wolf aller deutschen Großschriftsteller.
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