Jean-Pierre Melville 100th Anniversary Edition (Blu-ray)

Eine Filmkritik von Simon Hauck

Ornament und Verbrechen

„Philosophisch gesprochen, ist mein Standpunkt im Leben extrem anarchistisch: Ich bin ein absoluter Individualist, und um die Wahrheit zu sagen, so will ich weder links noch rechts sein. Sicherlich lebe ich als ein Mann der Rechten. Ich bin ein rechtsgerichteter Anarchist – obwohl ich annehme, dass das eine Barbarei ist und gar nicht wirklich existiert. Sagen wir, ich bin ein Anarcho-Feudalist.“ Alleine diese kurze Selbstbeschreibung aus dem Munde Jean-Pierre Melvilles reißt bereits seine wesentlichen Themen an: Allerhand Ambiguitäten und Doppelsinnigkeiten kennzeichnen sein eminent einflussreiches Gesamtwerk. Gepaart mit der absoluten Klarheit seines Stils wie der Hinterlist seiner Filme, der genialischen Coolness seiner Helden und einer weiterhin formidablen Bildsprache, bleibt er ein Liebling von Filmclubs und Kinematheken bis in die Gegenwart hinein.
Sein visuell brillantes Oeuvre ist von dieser einzigartigen Signatur durchzogen: Der des Individualismus, der weder religiös-metaphysisch konnotiert ist, noch sich bei ihm um neue politische Kontexte der Nachkriegszeit großartig scheren würde und erst recht nicht um damals modische Zeitgenossen der französischen Theorie wie Jean-Paul Sartre oder Albert Camus. Denn der Name Melville ist in erster Linie mit starkem Genrekino verbunden: Er war der wegweisende Spezialist für neue Gangsterfilme, für eine dezidiert französische Variante des Film noir, die man heute als policier oder film polar kennt – und in Kennerkreisen oder Retrospektiven ungezügelte Schätzung erfährt.

Der am 20. Oktober 1917 als Jean-Pierre Grumbach geborene Meisterregisseur war ein entschiedener Ästhet innerhalb des europäischen Autorenkinos der 1960er und frühen 1970er Jahre. In der Filmgeschichtsschreibung wird er daher im Grunde bis heute als herausragender Chronist filmischer Unterwelten verehrt, dem sich als durchaus pedantischer Filmemacher in Feldmarschall-Manier am Set selbstverständlich alles unterzuordnen hatte. Als früh verehrter Prototyp eines tatsächlichen Autorenfilmers (auteur complet) im Wortsinne, der Produktions-, Regie- und Drehbucharbeit in Personalunion vereinigte, gilt er neben Alfred Hitchcock als einer der wirkungsmächtigsten Urväter der jungen wilden Filmemacher und Kritiker der Nouvelle Vague um Godard, Rohmer, Truffaut oder Malle.

In seinen stilistisch gleich reihenweise herausragenden Filmwerken (z.B. Vier im roten Kreis, Armee im Schatten, Eva und der Priester oder Der Teufel mit der weißen Weste) gibt es von vornherein keine flache Schwarzweiß-Malerei. Wer darin „gut“ oder „böse“ ist, entscheidet alleine der – visuell nicht selten berauschte – Betrachter. Scheinbar nichts wird hier sauber aufgetrennt oder katalogisiert. Emotionen werden quasi eingefroren, es regiert eine durchgängige Melvillesche Janusköpfigkeit. Die Realitäten sind auffällig instabil, ohne je ins Surreale oder Unterbewusste abzudriften.

Wer darin psychologische Finessen sucht oder einem bloßen Handlungskino anhängt, wird in seinem streng komponierten Film-Kosmos gleich mehrfach ins Abseits laufen (müssen). Schließlich hadern Melvilles Filme erst gar nicht mit der Leere des Menschen im Nachkriegseuropa, sondern hantieren geradezu damit. Sprach-, Kommunikations- oder Diskursdebatten, allesamt urtypisch französische Kulturthemen nach 1945, werden von ihm nichts weniger als missachtet. Der Filmwissenschaftler Bernd Kiefer hat das einmal so passend die „filmische Mythologie der Leere“ bei Melville genannt, was auch bei einer Neubetrachtung seines Werkes im Jahr 2017 nach wie vor absolut gültig ist.

Zugleich bestechen Melvilles Arbeiten durch eine ungeheure Präzision wie eine extrem hervorzuhebende formale Perfektion, die beide rasch stilbildend wurden und in den Kinowelten von Martin Scorsese (Taxi Driver, Good Fellas), Quentin Tarantino (Reservoir Dogs), Rainer Werner Fassbinder (Liebe ist kälter als der Tod, Götter der Pest), Michael Mann (Der Einzelgänger, Heat), David Fincher (Sieben) oder John Woo (The Killer) deutliche Spuren hinterließen. Denn bei Melville stehen die Figuren unter immensem Druck. Seine Art des Kinomachens ist ein Fest der Blickrichtungen, der einzelnen Gesten, Tempi und Schauplätze.

Seine lakonischen (Anti-)Helden sind stets frei von Küchenpsychologie und wurden – wie der Regisseur selbst – mit Westernstoffen sozialisiert. Immer stehen Männer bei ihm im Fokus, einsame natürlich, genauso wie der Tod und ein gewisser unausweichlicher Fatalismus in atemberaubenden Plansequenzen. Kein Wunder, dass ihn auch die französische Frauenbewegung zeitlebens einer anhaltenden Misogynie in seinem Gesamtwerk bezichtigte: Denn everybody’s darling war Melville lange nicht – weder beim breiten Publikum noch bei der Kritik, weder bei den Filmgewerkschaften noch bei großen europäischen Produzenten in Paris, Rom oder Berlin.

So sehr kreisen doch im Grunde vieler seiner Protagonisten nur um sich selbst, als regelrecht sprachlose Narziß-Figuren. Und trotzdem – oder gerade deshalb? – konnte Melville fast von Beginn an mit echten Stars drehen, die sozusagen seine Filme „pflastern“, um in der Westernsprache zu bleiben: Natürlich Alain Delon als Lieblingsschauspieler des Regisseurs, aber auch Jean-Paul Belmondo, Serge Reggiani, Lino Ventura, Yves Montand oder Michel Piccoli konnten in Melvilles eigensinnigen Filmwelten nachhaltige Spuren hinterlassen.

Seine hervorragenden Filme über die französische Résistance – und im speziellen seine Thriller – waren im Grunde vielerlei: Thematisch hart wie Granit, stilistisch kalt wie Polareis und trotzdem so logisch wie eine mathematische Gleichung, ohne sich in bloße Abstraktionen zu verlieren. Oder begrifflich gefasst: Ehre trifft bei Melville auf Wagnis, Freundschaft auf Verrat. Und natürlich bleibt die ruhelose Bestie namens Schicksal – neben den unermesslichen coolen Trenchcoats und Hüten – eine echte Konstante im Melvilleschen Kino-Universum, das beständig von Möglichkeiten und Konjunktiven durchzogen ist.

Der Eigenbrötler Melville liebte außerdem Amerika, das sieht man seiner Autorenhandschrift immer wieder an, und er liebte auch in seinem persönlichen Alltag alles Amerikanische (z.B. Sofas und Stehlampen aus den 1940ern). Meist trug er einen Stetson und eine Sonnenbrille, selbstverständlich ganztags, und es konnte beileibe vorkommen, dass er jemandem die Freundschaft aufkündigte, weil dieser seine Bewunderung für Regisseure wie William Wyler oder Robert Wise nicht teilen konnte.

Er ging im Laufe seiner Karriere sogar so weit, dass er nur noch zum Drehen sein Bett verließ: Natürlich im eigenen Studio, um auch auf diese Weise vollkommen autark zu sein. Ansonsten cruiste er nachts am liebsten stundenlang durch Paris in seinem legendären Ford Galaxy, um entweder die Besucherschlangen vor den Kinos zu begutachten oder selbst neue Drehmotive zu scouten. Wieder in seinem Zuhause angekommen, das er der Legende nach höchstselbst mit dunklen Brettern zugenagelt haben soll, machte er sich – wie es auch seine prominenten Regieassistenten Volker Schlöndorff oder Bertrand Tavernier später häufig erzählten – in der Regel sogleich wieder an ein neues Projekt, ohne einen Gedanken an die notwendige Finanzierung zu verschwenden. „In der Filmgeschichte ist er wohl der einzige Regisseur, der in seinem eigenen Filmatelier lebte“ (Volker Schlöndorff in seiner Autobiografie Licht, Schatten und Bewegung. Mein Leben und meine Filme).

Am Ende existierte Jean-Pierre Melville (1917 – 1973) regelrecht in (s)einer eigenen Kunstwelt, die sich mit der seiner Filme immer weiter deckte: In jener insgesamt sehr einsamen Welt voller Zeichen und Zitate, mit Kino im Kopf vom Aufstehen bis zum Einschlafen, blieb er bis zu seinem frühen Tod ein absoluter Solitär des Weltkinos. Zum 100. Geburtstag erschien nun bei Arthaus eine gebührende Werkausgabe mit zehn seiner nach wie vor hoch einflussreichen Filmarbeiten (mit Ausnahme seines wohl berühmtesten Films und gleichzeitig dem Alain-Delon-Klassiker schlechthin: Le Samouraï / Der Eiskalte Engel). Ergänzt durch umfangreiches Bonusmaterial (z.B. eine interessante Masterclass mit Rémy Grumbach und Philippe Labro) und in bestechender Bildqualität ist es nun wieder möglich, ins Reich des ewigen „Cool Killers“ einzutauchen: Es lohnt sich.

Jean-Pierre Melville 100th Anniversary Edition (Blu-ray)

„Philosophisch gesprochen, ist mein Standpunkt im Leben extrem anarchistisch: Ich bin ein absoluter Individualist, und um die Wahrheit zu sagen, so will ich weder links noch rechts sein. Sicherlich lebe ich als ein Mann der Rechten. Ich bin ein rechtsgerichteter Anarchist – obwohl ich annehme, dass das eine Barbarei ist und gar nicht wirklich existiert. Sagen wir, ich bin ein Anarcho-Feudalist.“
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