Im Herzen der See

Eine Filmkritik von Andreas Günther

Abenteuer für kleine und große Jungs

Im Herzen der See erfüllt die höchsten Ansprüche des gegenwärtigen Kinos und wirkt zugleich rührend und irritierend altmodisch. Die 3D-Technik kommt so brillant zur Geltung wie selten. Doch wendet sich der Film über ein Walfang-Desaster von 1820 an ein Publikum, das so vielleicht gar nicht mehr existiert. Denn gibt´s das noch, dass Vater und Sohn Billets lösen, um in solche Abenteuer einzutauchen? Abenteuer, die keine Frauen kennen, sondern nur den hier akribisch beschriebenen Überlebenskampf von Männern gegen die Launen der Natur und ihre wilden Tiere, die Entbehrungen von Hunger und Durst, das Grauen des Verreckens und die mühsam errungene Solidarität der Kameradschaft.
Aber Regisseur Ron Howard liegen eben Filme für kleine und große Jungs, vielleicht, weil er am besten von jungenhaften Männern erzählt. Sie fahren zusammen im Kreis (Rush – Alles für den Sieg), lösen Rätsel wie disziplinierte Pfadfinder (Illuminati, The Da Vinci Code – Sakrileg), verlieren sich spielerisch in den Tiefen der Mathematik (A Beautiful Mind – Genie und Wahnsinn), wollen zum Mond fliegen (Apollo 13), verbeißen sich im verbalen Clinch (Frost/Nixon) oder gehen gemeinsam durchs Feuer (Backdraft).

So verwundert nicht, dass ein Männergespräch Im Herzen der See rahmt. Auf der Suche nach Faktengrundlage für seinen Roman Moby Dick bietet der junge, aber schon recht erfolgreiche Autor Herman Melville (Ben Wishaw) im Walfänger-Eldorado Nantucket des Jahres 1850 Old Thomas Nickerson (Brendan Gleeson) viel Geld an, damit er ihm von der Katastrophe der „Essex“ erzählt. Auf dem Walfänger diente dreißig Jahre zuvor der gerade 14-jährige Tom Nickerson (Tom Holland) als Schiffsjunge. Hautnah bekommt er die Rivalität zwischen dem aufbrausenden Obermaat (Owen Shaw) und dem arroganten Captain Pollard (Benjamin Walker) mit. Aber bedeutender ist seine eigene Taufe in Sachen Grausamkeit. Sein Gesicht ist bespritzt vom Blut des ersten von ihm miterlegten Wals, es zuckt noch vor Anstrengung, nachdem er mit den Männern auf das Tier eingestochen hat, es jubelt – aber es mischt sich schon die stille Verstörung über die verlorene Unschuld darin.

Der erste Fang weckt falsche Erwartungen. Statt auf mehr trifft die „Essex“ auf immer weniger Wale. Und dann auf einen riesengroßen, der die Besatzung scheinbar für das strafen will, was sie tut. Ein Wischen mit der Schwanzflosse genügt, um das Deck zu verwüsten. Bei Handkamera- und Steadycam-Experte Anthony Dod Mantle sind die Aufnahmen in den besten Händen – sie reißen in einen Orkan der Bewegung. Atemberaubend konsequent und ausgefeilt eingesetzte 3D-Effekte verstärken enorm die Wirkung. Sie verlängern nicht nur die Rinnsteine von Nantucket in den Saal und beschütten mit Wellenbergen und Schiffstrümmern. Sie lassen vor allem die Gesichter der geprüften Männer über dem Publikum schweben. Es sind Zeugnisse der Gefahr, der Todesgefahr und des Todes selbst. Eindringlich stehen sie den eingefleischten Anhängern des Abenteuergenres in Im Herzen der See vor Augen.

Im Herzen der See

„Im Herzen der See“ erfüllt die höchsten Ansprüche des gegenwärtigen Kinos und wirkt zugleich rührend und irritierend altmodisch. Die 3D-Technik kommt so brillant zur Geltung wie selten. Doch wendet sich der Film über ein Walfang-Desaster von 1820 an ein Publikum, das so vielleicht gar nicht mehr existiert. Denn gibt´s das noch, dass Vater und Sohn Billets lösen, um in solche Abenteuer einzutauchen?
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Meinungen

Martin Zopick · 10.10.2023

Der Film beleuchtet die Hintergründe, wie der Roman Moby Dick von Herman Melville zustande kam. Schriftsteller Melville (Ben Wishaw) sucht Thomas Nickerson (Brendon Gleeson) auf, einen Überlebenden der Schiffskatastrophe des Walfängers Essex. Dieses Schiff und seine Besatzung haben Moby Dick gejagt und sind die Basis für Melvilles weltberühmten Roman geworden.
Regisseur Ron Howard schildert in sehr unterhaltsamer Form das Abenteuer und kleidet es in dramatische Bilder von einer stürmischen See, mit allen Tücken, die ein Zweimaster mit sich bringt, von männlicher Rivalität und Kannibalismus.
Durch diesen Trick der einen Doppelfilter als Wahrheitsspender benutzt, kommt der Plot den Ereignissen von 1820 sehr nahe. Ob sich nun das Drehbuch für Philbricks Vorlage entscheidet, der sehr gut recherchiert hatte, für die Wahrheit von Melville oder vielleicht gar für die des Thomas Nickerson, ist unerheblich. Das hier vorliegende Endprodukt ist klassisch sehr gut gemacht, äußerst unterhaltsam und ein eigenständiger Film, der das bekannte Bild congenial ergänzt. Und am Ende sogar noch mit Zugeständnissen aufwartet wie ‘Es gibt immer mehrere Wahrheiten und von diesen Wahrheiten wurde das Werk von Melville inspiriert.‘ Der ging mit seinem Roman allerdings noch über die Grenzen einer Geschichte aus Seemannsgarn hinaus und steuerte auf eine Metaebene. Das Happy End für wenige ist durchaus vorhersehbar. Die Strapazen waren erschütternd und die See gnadenlos, die Details genau und die Darsteller eine Spitzencrew.