Große Erwartungen

Eine Filmkritik von Melanie Hoffmann

Ein Dickens-Klassiker im neuen Gewande

Der Waisenjunge Pip lebt bei seiner großen Schwester und deren Mann Joe, dem Dorfschmied. Seine Schwester behandelt ihn ziemlich herrisch, aber in seinem Schwager hat er einen Freund und Vaterersatz gefunden. Als er eines Abends weggeschlichen ist, trifft er in den Marschen auf Magwitch (kaum zu erkennen: Ralph Fiennes), offenbar ein entflohener Häftling. Magwitch macht dem jungen Pip gehörig Angst und verlangt von ihm, dass er ihm am nächsten Tag Essen und eine Feile bringt. Pip, als gutherziger und leicht naiver Junge, tut wie ihm geheißen. Er klaut zu Hause etwas Essen und die verlangte Feile und bringt sie ihm schon am nächsten Tag.
Für Pip geht das Leben weiter. Im Hause seines Schwagers und seiner Schwester lebt er einen langweiligen Alltag und hat Abwechslung durch die Einladung einer seltsamen Frau, die ein gruseliges Haus bewohnt. Miss Havisham (Helena Bonham Carter) wurde vor Jahren am Hochzeitstag versetzt und wohnt seitdem vom Tageslicht abgeschottet in einem großen Haus, in welchem sie keine Veränderungen duldet. Daher trägt sie auch noch immer das Brautkleid und die Hochzeitstafel ist stets gedeckt. Ihre einzige Freude und Ablenkung ist es, Kindern beim Spielen zuzusehen. Ihre Pflegetochter, die anmutige Estella, braucht also einen Spielgefährten und das soll probeweise Pip sein. Dieser verliebt sich unversehens in das schöne und stolze Mädchen, das ihn hingegen nur für einen ungezogenen Arbeiterbengel hält. In Pip erwächst der Wunsch beruflich nicht in die Fußstapfen seines Schwagers zu treten, wie es angemessen wäre, sondern eines Tages ein Gentleman zu werden und dadurch Estellas Herz zu gewinnen.

Jahre später ist aus Pip ein junger Mann geworden. Die Spiele in Miss Havishams Haus sind längst passé und er arbeitet als Lehrling bei Joe. Wie aus heiterem Himmel bekommen sie Besuch von einem Londoner Anwalt, der ihn für einen anonymen Mandanten in Vormundschaft nehmen soll und aus ihm einen Gentleman machen soll. Die Bedingungen: Er darf niemals Nachforschungen anstellen, wer der edle Spender ist und er darf seinen Namen Pip nicht ablegen. Pip glaubt, alle seine Wünsche seien in Erfüllung gegangen und er könne endlich das Herz der wundervollen Estella erobern. Nur hat er nicht bedacht, dass diese von ihrer grausamen Ziehmutter zur Rache an den Männern erzogen wurde.

Der große und kunstvolle Roman Große Erwartungen von Charles Dickens ist eine zeitlose Geschichte über das Wesen der Menschen. Die Sehnsucht des Protagonisten Pip, in höhere Kreise aufzusteigen, kann man zu allen Zeiten immer wieder beobachten – auch dass mit einem solchen Aufstieg sich nicht immer das erhoffte Glück einstellt. Natürlich ist es aber für das Publikum zunächst eine heitere Sache, diesem Aufsteiger bei seinen Erfahrungen zuzuschauen.
Ein weiterer großer Antrieb für die Handlung ist die Rachelust der verbitterten Miss Havisham. Sie will es allen Männern heimzahlen, dass sie versetzt wurde. Die schöne Estella kann sich gar nicht wehren, wurde von Miss Havisham einfach zum Werkzeug ihrer Rache auserkoren.

Einige der Schauspieler dieser Verfilmung sind wundervoll. Helena Bonham Carter verkörpert ja recht gerne düstere Figuren und kann auch hier aus ihrer Rolle genau die richtige Menge Grusel und Wahnsinn herauskitzeln. Ralph Fiennes zeigt mit der Verkörperung des Häftlings Magwitch eine ganz neue Facette seiner Schauspielkunst. Das macht er so großartig, dass man ihn zunächst gar nicht erkennt, wofür natürlich auch eine großartige Maske verantwortlich ist. Regisseur Mike Newell hat sich für die Inszenierung nur in wenig riskante Wagnisse begeben: Er belässt die Geschichte in ihrer Zeit, er hält sich an Dickens‘ Roman und Helena Bonham Carter ist eine beinahe zu offensichtliche Wahl für Miss Havisham. Ursprünglich war Meryl Streep für diese Rolle vorgesehen, doch es gab Überschneidungen im Drehplan mit anderen Projekten. Von Jeremy Irvine und Holliday Grainger könnte man etwas mehr erwarten, ihr Spiel bleibt ein wenig farblos, insbesondere hätte Irvine sicher etwas beherzter sein können. Aber wer kann ihnen verdenken, dass sie von solch routinierten und großartigen Meistern ihres Faches wie Helena Bonham Carter und Ralph Fiennes an die Wand gespielt werden.

Neben all den anderen Verfilmungen des Klassikers, kommt nun natürlich die Frage auf, was diese hier bietet. Dickens schrieb seinen Roman als Geschichte über die Klassengesellschaft. Diese scheint heutzutage tot zu sein, aber bei genauerem Hinsehen merken wir schnell, dass das nicht der Wahrheit entspricht. Immer wieder gibt es neue Berichte über die Bildungsstandards in Deutschland und dass es sehr wohl darauf ankomme, wo man herkommt, wenn sich entscheidet, welchen Bildungsweg ein Kind geht. In Anbetracht dessen sollte der Film als Inspiration für die Überwindung derartiger Klassengrenzen genommen werden. Selbst wenn man nicht immer verleugnen kann, wo man herkommt. Als Joe den aufgestiegenen Pip in London besucht, prallen Welten aufeinander. Pip kennt sich inzwischen in der Londoner Gesellschaft gut aus, kann aber nicht damit umgehen, wie sein Schwager sich in einem Wirtshaus beim Essen benimmt. Worüber ein „echter“ Gentleman großzügig hinwegsehen würde, könnte ihn als Emporkömmling entlarven und ihn in seinem Status gefährden.

Mike Newell schuf eine auf den ersten Blick solide Literaturverfilmung mit dem großen Charme eines Kostümdramas und dem ironischen Geist und Witz bisheriger Verfilmungen dieses Stoffes. Auf den zweiten Blick verbirgt sich hinter der Fassade eine zweite Deutungsebene mit Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen — und zwar damals wie heute. Der Film bietet so (sicher nicht nur für Schulklassen) viel Raum für Diskussionen. Großes Kino!

Große Erwartungen

Der Waisenjunge Pip lebt bei seiner großen Schwester und deren Mann Joe, dem Dorfschmied. Seine Schwester behandelt ihn ziemlich herrisch, aber in seinem Schwager hat er einen Freund und Vaterersatz gefunden. Als er eines Abends weggeschlichen ist, trifft er in den Marschen auf Magwitch (kaum zu erkennen: Ralph Fiennes), offenbar ein entflohener Häftling. Magwitch macht dem jungen Pip gehörig Angst und verlangt von ihm, dass er ihm am nächsten Tag Essen und eine Feile bringt.
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Meinungen

Harald · 13.12.2012

Gestern in der Sneak Preview gesehen und nach nur 40 Minuten gegangen.
Einer der langweiligsten und anödensten Filme, die mir je unterkamen.