Europa

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Montag, 20. August 2012, ARTE, 21:50 Uhr

Es gab eine Zeit, in der war Lars von Trier noch ein junges, aufstrebendes Filmtalent aus dem „cineastischen Nirvana“ Dänemark. Denn das unser nördlicher Nachbar in den Anfangsjahren der bewegten Bilder einmal die Filmnation Nr. 1 weltweit war, das geriet irgendwann in den Jahrzehnten fortwährender Hollywood-Dominanz in Vergessenheit. Doch in den Achtzigern und frühen Neunzigern war es vor allem Lars von Trier, der dafür sorgen sollte, dass Dänemark wieder auf der Landkarte der Filmverrückten in aller Welt auftauchte. Und dass dies bis heute so geblieben ist, ist vor allem das Verdienst des schwierigen bis heftig neurotischen Regisseurs, bei dem man sich nie sicher sein kann, was denn nun Provokation ist und was Ernst.
Der naive Amerikaner deutscher Abstammung Leopold Kessler (Jean-Marc Barr) kehrt kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nach Europa, genauer gesagt nach Deutschland zurück und ergattert dank seines Onkels (Ernst-Hugo Järegard) einen Job als Schlafwagenschaffner bei der Gesellschaft Zentropa. Fortan ist er einem merkwürdigen System absurder Vorschriften unterworfen, das inmitten des Chaos die in Deutschland ach so heilige Disziplin und Ordnung wieder herstellen soll. Auf seinen Fahrten quer durch das zerstörte Deutschland lernt er Katharina Hartmann (Barbara Sukowa) kennen, die Tochter des Besitzers von Zentropa, der während des Krieges die Waggons für den Transport von Juden in die KZs bereit stellte, und der nun so weitermacht, als sei nichts geschehen. Natürlich verliebt sich Leopold in Katharina und natürlich wird seine Liebe schamlos ausgenutzt, denn die Untergrundorganisation der Nazis, die Werwölfe, sind immer noch aktiv, und der nichts ahnende Schlafwagenschaffner aus Amerika ist fester Bestandteil ihrer dunklen Pläne und Machenschaften – ein Opfer, das zum Täter wird.

Europa ist ein Sammelsurium von Zitaten und Verweisen, eine Fortführung von Kafkas Romanfragment Amerika (nur dass der Protagonist Leopold Kessler hier den umgekehrten Weg von Amerika zurück nach Europa antritt, eine tiefe Verneigung vor Hitchcock und den Regisseuren von Hollywoods „Schwarzer Serie“ (die ja de facto vor allem das Werk europäischer Emigranten ist), vor den Regisseuren des Neorealismus und des Expressionismus und nicht zuletzt ein wagemutiges Experiment, bei dem Rückprojektionen, gelegentliche Farbtupfer im Schwarz-Weiß oder extreme Optiken und vor allem der Voice-over-Kommentar von Max von Sydow eine Atmosphäre der Beklemmung und Verlorenheit schaffen. Die Erzählstimme aus dem Off nimmt hier eine Rolle ein, wie sie wohl in der Filmgeschichte einmalig ist, denn in Europa ist sie das Alter Ego des Regisseurs, sie dirigiert und beherrscht das Geschehen, den Raum und die Zeit, gibt Anweisungen und entscheidet wie ein alttestamentarischer Gott über Leben und Tod, Wohl und Wehe der Akteure. Wer einmal die berühmte Schlussszene von Europa gesehen hat, in der Jean-Marc Barr, gefangen in einem Eisenbahnwaggon, im Wasser versinkt und um sein Leben kämpft, der wird vor allem die Stimme in Erinnerung behalten haben und ihre Worte: „Ich zähle jetzt bis zehn und du bist tot!“ Und genauso ergeht es auch dem Zuschauer, denn der allmächtige, allgegenwärtige Erzähler beherrscht nicht nur die Akteure auf dem Schachbrett des Filmsets, sondern ebenso die Zuschauer im Dunkel des Kinos. Denn nie ist man sich im Klaren darüber, an wen sich Max von Sydows Befehle richten, ein bewusster Trick, mit dem Lars von Trier quasi nebenbei die Verführungsmaschine Kino bloßstellt und zugleich deren Mechanismen nutzt.

Ohne Zweifel ist Europa Lars von Triers Meisterwerk der frühen Schaffensphase, ein hoch artifizieller Film, der durch nie gesehene Optiken und Tricks besticht, im Prinzip also so etwas wie eine radikale Gegenposition zum Purismus und der formalen Kargheit von Dogma 95. Wer Lars von Trier nur durch seine späteren Werke kennt, der sollte sich diesen Film unbedingt anschauen, um die ganze Bandbreite seines filmischen Könnens kennenzulernen. Ein wahrhaft großartiger Film.

Europa

Es gab eine Zeit, in der war Lars von Trier noch ein junges, aufstrebendes Filmtalent aus dem „cineastischen Nirvana“ Dänemark. Denn das unser nördlicher Nachbar in den Anfangsjahren der bewegten Bilder einmal die Filmnation Nr. 1 weltweit war, das geriet irgendwann in den Jahrzehnten fortwährender Hollywood-Dominanz in Vergessenheit. Doch in den Achtzigern und frühen Neunzigern war es vor allem Lars von Trier, der dafür sorgen sollte, dass Dänemark wieder auf der Landkarte der Filmverrückten in aller Welt auftauchte.
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