Einsteins Nichten (2017)

Eine Filmkritik von Simon Hauck

Über Leben

Gleich zu Beginn ein Wechsel von Schwarz-Weiß zu Farbe, wie man das aus einigen Edgar-Reitz-Produktionen kennt. Dazu eine Idyllen malende Hintergrundmusik (Filmkomposition: Edward Harris), die neugierig macht, quasi Vergangenes automatisch hervorholt. Auf der Bildebene (Kamera: Anton Klima) sitzen zwei hochbetagte Damen über den Dächern von Rom beisammen. Überaus lässig gekleidet für ihr Alter – und sehr herzlich im Umgang miteinander, das merkt man sofort. Beim noch genaueren Hinsehen wird ebenfalls recht schnell klar, dass die beiden verwandt sein müssen. Ziemlich eng sogar: Lorenza und Paola Mazzotti sind Schwestern, Zwillingsschwestern um genau zu sein, wie sich bald in Friedemanns Fromms neuestem Filmprojekt Einsteins Nichten herausstellen wird.

Zugleich waren sie die Adoptivkinder von Robert Einstein, der als Jude angesichts des NS-Regimes nicht – wie etwa sein weltberühmter Cousin Albert – frühzeitig in die USA emigrierte, sondern bis zuletzt überzeugt davon war, das tobende Kriegsgeschehen wie die massive Judenverfolgung um ihn herum in Italien relativ unbeschadet überstehen zu können: ein fataler Fehler: Am 3. August 1944, als sich die Deutschen eigentlich schon weitgehend auf dem Rückzug aus Italien befanden und die Alliierten parallel bereits weite Teile des Landes zurückerobert hatten, ereignete sich nämlich in seiner prächtigen Toskana-Villa südlich von Florenz ein Blutbad an Roberts Familie, welches die beiden Zwillinge sozusagen als eingesperrte Ohrenzeugen im Nebenzimmer miterleben mussten: seine Frau Nina und seine beiden Töchter Luce und Cici wurden ermordet. Ein Ereignis, das das gesamte Leben der Zwillingsschwestern einschneidend veränderte und sie zum Teil bis heute in ihren Träumen verfolgt.

Auch – und gerade – davon erzählt der preisgekrönte Regisseur (Die Wölfe, Weissensee, Die Stadt und die Macht) in seinem dokumentarisch angelegten Hybridfilm, der sowohl auf klassische O-Ton-Passagen auf dem Off wie seine herausragenden Protagonistinnen vor der Kameralinse setzt, jedoch auch vor effekthaschenden Reenactment-Szenen oder ebenso spröden wie überflüssigen Texttafeln nicht zurückschreckt.

Das dramaturgische Schemata Gut vs. Böse wird zudem in diesem nur zur Hälfte gelungenen Dokumentarfilmexperiment insgesamt zu zwanghaft verfolgt, manche biografische Fixpunkte (wie zum Beispiel das Verhältnis von Albert zu Robert Einstein oder das spätere Leben der beiden Zeitzeuginnen in Italien) werden dagegen nur ansatzweise angerissen, selten wirklich weiterverfolgt: Erst recht nicht bis in die Gegenwart hinein, was doch mehr als nur überrascht, weil speziell seit 2007 mehrere Jahre lang gezielt nach den Tätern des Massakers gefahndet wurde und der „Fall Robert Einstein“ nach neuen Indizien aus Kaufbeuren kürzlich sogar noch einmal an die Münchner Staatsanwaltschaft weitergereicht worden war. Allerdings ergebnislos, in der Zwischenzeit wurden die Akten wieder geschlossen – vorerst zumindest. Nur davon erfährt der Zuschauer leider gar nichts in Fromms seltsam ausgefransten Dokumentarfilm, was schade ist – und wiederum neue Fragen aufwirft. Denn der Regisseur und Drehbuchautor Fromm hätte den Zuschauer zumindest auf diese jüngsten strafrechtlichen Entwicklungen hinweisen können, selbst wenn er dafür im Abspann nur eine weitere Texttafel verwendet hätte – schlichtweg aus Informations- und Fairnessgründen. So wirkt am Ende vieles sehr vage und reichlich unabgeschlossen, erst recht für all diejenigen, die früher schon einmal von Robert Einsteins grausigem Schicksal gelesen oder gehört hatten.

Aus diesem Grund ist es umso erstaunlicher, dass sich der erfahrene Fernsehmacher speziell als Autor im zweiten Teil des Films weniger auf die titelgebenden Nichten, die Robert Einstein einst nach dem Tod ihrer leiblichen Mutter in seine familiäre Obhut aufgenommen hatte, und ihren weiteren, sicherlich spannenden Lebensweg stürzt. Stattdessen schlachtet er den brutalen Dreifachmord geradezu visuell aus, was plötzlich so gar nicht mehr zum vorher leise angeschlagenen Tonfall des Films passt, der ansonsten völlig zurecht auf elementare Dinge wie (Zwischen-)Menschlichkeit, die Fähigkeit zur Versöhnung und echte Empathie setzt. Speziell in dieser Passage wirkt Fromms Film durch mäßig und zudem unglaubhaft inszenierte Spielfilmszenen filmemacherisch zu sehr aufgebläht – und obendrein wird das Ganze ziemlich weit in die Länge gezogen, ohne dass der Film dadurch inhaltlich weiter an Fahrt aufnehmen würde.

Und trotzdem ist Einsteins Nichten ein sehenswerter Film geworden, was in erster Linie an den beiden großartigen Zwillingsschwestern und weniger an ihrer schrecklichen Familiengeschichte liegt. Wenn sich eine von ihnen beispielsweise stumm auf die Grabplatte von Robert Einstein legt, berührt das ungemein. Oder wenn die andere mit fast 90 Jahren beweist, dass sie sich bis heute ihren bissigen Galgenhumor bewahrt hat – auch gegenüber dem Kamerateam: „Ich sehe mein Leben als eine kontinuierliche Flucht vor dem Tod. Jetzt nutzt das aber nicht aus und werft mich die Treppe hinunter! Gebt mir lieber die Hand und helft mir.“ Und wenn dann beide am Ende Schulter an Schulter beieinander sitzen und mit einem trotz allem zufriedenen Blick auf Rom hinabschauen, glaubt man in der Tat sogar für einen Moment, dass Liebe stärker sein kann als Hass und es nie zu spät für eine Aussöhnung ist.
 

Einsteins Nichten (2017)

Gleich zu Beginn ein Wechsel von Schwarz-Weiß zu Farbe, wie man das aus einigen Edgar-Reitz-Produktionen kennt. Dazu eine Idyllen malende Hintergrundmusik (Filmkomposition: Edward Harris), die neugierig macht, quasi Vergangenes automatisch hervorholt.

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Meinungen

Annegreth Winzer · 26.08.2017

Ich sehe das etwas anders, ich finde nichts aufgebläht oder mässig und zudem unglaubhaft inszeniert, das ist ein bisschen sehr frech und drüber als Negativkritik und geschmäcklerisch.Vor dem Hintergrund, wie im Radio zu hören war, dass absolut kein Geld da war schon mal gleich gar nicht.Ich sehe eher eine einfühlsame Regie im Umgang mit den beiden Damen und dem Thema, sonst hätten die beiden sich möglicherweise so nicht geöffnet.Selbst sehen und urteilen ist, denke ich am besten.Kritiker und Kritiken eben.Auch nur Mensch und Geschmack.