Die Karte meiner Träume (2013)

Eine Filmkritik von Gregor Torinus

Fast wie Amélie in Amerika...

Anfang der 90er-Jahre erregte der französische Regisseur Jean-Pierre Jeunet mit seinem gemeinsam mit Marc Caro gedrehten Debütfilm — der Groteske Delicatessen (1991) — einiges Aufsehen. Das Regie-Duo konnte sich mit dem grotesk-surrealen Folgefilm Die Stadt der verlorenen Kinder (1995) sogar noch einmal steigern. Dann trennte sich der Weg der beiden Künstler. Während es um Marc Caro herum schnell sehr still wurde, ging Jeunet nach Hollywood und drehte dort mit Alien – Die Wiedergeburt (1997) den vierten Teil der legendären Horror-Sci-Fi-Reihe. Auf diesen ein wenig gemischt aufgenommenen Genrefilm folgte der Film, der den Franzosen endgültig einen Platz in den ewigen Annalen der Filmgeschichte sichern würde: Der bezaubernde Die fabelhafte Welt der Amélie (2001) machte die Hauptdarstellerin Audrey Tautou zu einem Star und steht bis heute für alles, was Frankreich besonders charmant und sympathisch macht. Allerdings konnte Jeunet an diesen cineastischen Meilenstein bis heute nicht ganz anknüpfen. Aber jetzt kommt mit der Romanadaption Die Karte meiner Träume der bisher beste Nachfolgefilm zu Die fabelhafte Welt der Amélie in unsere Kinos:

Der zehnjährige T.S. Spivet (Kyle Catlett) ist der selbsterklärte Leonardo Da Vinci aus Montana und hat dafür tatsächlich jeden Grund: Intellektuell und zeichnerisch hochbegabt verbringt er seine Zeit mit bahnbrechenden Erfindungen, wie dem ersten fast funktionierenden Perpetuum Mobile. Die Pläne für diese immerhin 400 Jahre ohne Energiezufuhr selbstständig laufende Apparatur hat T.S. an das berühmte Smithsonian Museum in Washington D.C. geschickt. Prompt lädt ihn die Kuratorin Miss Jibsen (Judy Davis) ein, hierfür den prestigeträchtigen Baird-Preis in Empfang zu nehmen. Sie ahnt nicht, dass der geniale Erfinder in Wirklichkeit nicht der Vater von T.S. ist, sondern der kleine Junge, mit dem sie am Telefon gesprochen hat. Dieser Vater (Callum Keith Rennie) ist in Wirklichkeit ein wortkarger Cowboy, der weder mit den Forschungen von T.S. noch mit denen von seiner Frau (Helena Bonham Carter) etwas am Hut hat. Er verbringt lieber Zeit mit T.S.‘ zweieiigem Zwillingsbruder Layton (Jakob Davies), der zwar nicht T.S.‘ Geist, dafür aber mehr Muskelkraft abbekommen hat. Ihre Schwester Gracie (Niamh Wilson) wiederum findet die gesamte Familie und das Leben auf einer abgelegenen Ranch im ländlichen Montana völlig langweilig und träumt davon, ein Star zu werden. T.S. beschließt seiner Familie nichts von der Preisverleihung zu erzählen und reist heimlich nachts in einem Güterzug als blinder Passagier quer durch die USA nach Washington…

Dem Familienfilm Die Karte meiner Träume merkt man nicht wirklich an, dass dies eine Buchadaption ist. Der amerikanische Autor Reif Larsen des gleichnamigen Bestsellers und der französische Regisseur Jean-Pierre Jeunet betrachten sich zu Recht als Geistesverwandte. Wie Die fabelhafte Welt der Amélie ist auch Die Karte meiner Träume ein modernes Märchen, das den Zuschauer mit seinem speziellen Charme schnell für sich einnimmt. In beiden Filmen verblüfft eine große Liebenswürdigkeit, die nie in puren Kitsch umkippt. So schlummern unter der zuckersüßen Oberfläche von Die Karte meiner Träume allerlei ironische Seitenhiebe. Auch werden inmitten der Postkartenidylle des ländlichen Montanas so ernste Themen wie Tod und Schuld behandelt. So kam T.S.‘ Bruder Layton bei einem Unfall zu Tode, bei dem auch T.S. anwesend war. Nun macht T.S. sich starke Vorwürfe, zumal ihm bewusst ist, dass er ein Motiv gehabt hätte, wäre es doch kein Unfall gewesen. Sehr leidet T.S. an der mangelnden Aufmerksamkeit seines Vaters, der den kleinen Nachwuchs-Cowboy Layton klar bevorzugt. T.S. kommt klar nach seiner Wissenschaftlermutter. Doch diese ist ganz mit ihren obskuren Insektenforschungen beschäftigt und wirkt ansonsten reichlich abwesend und zerstreut.

Zum Gelingen des Film dürfte auch beigetragen haben, dass Jean-Pierre Jeunet nach seinen bisherigen Hollywood-Erfahrungen die Idee hatte, Die Karte meiner Träume als einen europäischen Film in Amerika zu drehen, um sich die komplette künstlerische Kontrolle über sein Werk zu sichern. Tatsächlich entstand die französisch-kanadische Produktion fast komplett in Kanada. Nur eine Second-Unit, an der Jeunet selbst gar nicht beteiligt war, machte ein paar unverzichtbare Außenaufnahmen in einigen Städten der USA. Der einzige amerikanische Darsteller im gesamten Film ist der T.S. Spivet spielende Kyle Catlett und das hat seinen Grund. Nicht nur, dass der junge Schauspieler inmitten einer recht illustren Darstellerriege zu bestehen versteht. Kyle Catlett ist T.S. Spivet! Er ist nicht nur bereits ein erfahrener Schauspieler, sondern zudem selbst hochbegabt. Catlett muss seine außergewöhnliche Rolle folglich gar nicht so sehr spielen. Als er z.B. im Film einen ihn verfolgenden Polizisten auf die Palme bringen will, wechselt Catlett/Spivet einfach in eine der fünf weiteren Sprachen, die er neben Englisch sonst noch spricht.

Auch von seiner visuellen Gestaltung her vermag Die Karte meiner Träume zu überzeugen. Zunächst einmal ist dies Jeunets erster Film in 3D und man sieht dem Ergebnis sehr deutlich an, dass hier wirklich einmal jemand diese neue Technik zunächst eingehend studiert hat, bevor er zu deren Anwendung überging. Jeunet zufolge ist dies einer der bisher ganz wenigen Filme, der nicht einfach in 2D gedreht und anschließend in 3D konvertiert wurde, sondern der von Anfang an in 3D konzipiert wurde. Und tatsächlich: Statt Augenschmerzen und zu wenig Licht erwarten den Zuschauer hier speziell für die räumliche Darstellung optimierte Kompositionen und eine strahlend-knallige Farbigkeit. Der Eindruck ist der eines ins räumliche geklappten Bilderbuches, eine Analogie, die auch im Film selbst immer wieder auftaucht. Die Einstellungen von der Ranch der Familie und der diese umgebenden gebirgigen Landschaft sind archetypische Bilder eines irdischen Paradieses, irgendwo zwischen Mark Twains Roman Tom Sawyer (1876) und Terrence Malicks filmischem Meisterwerk In der Glut des Südens (1978).

Für Jeunet typisch werden diese Bilderbuch-Bilder durch zahlreiche spielerische Zusatzinformationen weiter aufgeladen. So legen sich immer wieder T.S.‘ Zeichnungen räumlich über das Geschehen. Ist z.B. von einem sich unglücklich lösenden Schuss die Rede, so analysiert T.S. zeichnerisch die Geschoss-Flugbahn. Redet das kleine Genie hingegen mit seiner ignoranten Schwester, so zeigt Jeunet einen Einblick in deren Gehirn in Form einer dunklen Konferenz äußerst skeptischer Mädchen. Vielleicht liegt es daran, dass es in Die Karte meiner Träume nicht ganz so viele skurril-kreative Momente wie in Die fabelhafte Welt der Amélie gibt, dass dieser neue Film zwar sehr gelungen ist, aber trotzdem nicht ganz an Jeunets ewigen Klassiker heranreicht. Irgendwo fehlt in dem in Kanada entstandenen Die Karte meiner Träume doch ein wenig die Magie des französischen Märchens mit Audrey Tautou. Nur gehört die Kinomagie zu den besonderen Dingen, die sich nur sehr schlecht mit Worten greifen lassen — und wegen denen der Cinephile immer wieder den Weg in das Dunkel des Kinosaals sucht. Und worüber man nicht sprechen kann, soll man Ludwig Wittgenstein zufolge bekanntlich besser schweigen. Er muss es wissen, war Wittgenstein doch schließlich selbst ein Wunderkind.
 

Die Karte meiner Träume (2013)

Anfang der 90er-Jahre erregte der französische Regisseur Jean-Pierre Jeunet mit seinem gemeinsam mit Marc Caro gedrehten Debütfilm — der Groteske „Delicatessen“ (1991) — einiges Aufsehen. Das Regie-Duo konnte sich mit dem grotesk-surrealen Folgefilm „Die Stadt der verlorenen Kinder“ (1995) sogar noch einmal steigern.

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