Die Anruferin

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Die Schöne und das Biest

Eigentlich ist es eine ganz normale Situation, doch die Widerhaken stellen sich schnell ein: Ein Kind möchte abends gerne eine Geschichte erzählt bekommen, am liebsten eine spannende, in deren Mittelpunkt der Hamster Murkel steht. Man hört nur das Kind und realisiert schnell, dass bei diesem Gespräch kein Erwachsener anwesend ist, sondern das Kind telefoniert. Schließlich windet sich die Kamera an der Telefonschnur entlang und enthüllt das ganze Drama, dessen eigentlich harmlosem Beginn wir hier beiwohnen. Denn das kleine Mädchen, das hier spricht, ist gar keines, sondern eine junge, eigentlich recht sympathisch wirkende Frau, die ein seltsames Spiel mit ahnungslosen Fremden am Telefon treibt. So beginnt Felix Randaus Film Die Anruferin.
Irm Krischka (Valerie Koch), so erfahren wir im weiteren Verlauf des Films, arbeitet in einer Reinigung und pflegt zuhause ihre schwerkranke, bettlägerige Mutter (Franziska Ponitz), die gerne mal im Übermaß dem Alkohol zuspricht. Überschattet wird das Verhältnis der beiden Frauen durch den familiären Background: Irms jüngere Schwester verstarb als Kind an den Folgen einer Leukämie-Erkrankung, der Vater verließ Irm und ihre Mutter, der Rest bleibt im Dunkeln, doch man ahnt, dass sich die Mutter in den Suff flüchtete und dass ihr Zustand die Folge des Alkohols ist. Irms Telefonspielchen tragen immer wieder die Züge eines Reenactments, mal thematisiert sie in ihren Dialogen die kranke Mutter, dann wieder Krankheit und Tod der Schwester, lockt ihr Gegenüber zu einer Beerdigung und lässt sie dort im Ungewissen stehen. Bis sie eines Tages auf Sina Lehmann (Esther Schweins) stößt, die einfach nicht lockerlassen will. Möglicherweise spürt Sina, die gerade ihren Mann bei einem Unfall verloren hat, Irms Verletzlichkeit, zwischen den beiden Frauen entwickelt sich – anfangs unter vollkommen falschen Voraussetzungen – eine intensive Beziehung, bis sich Sina schließlich das ganze Drama von Irms Existenz enthüllt. Als Irms Mutter stirbt, ist das der Startpunkt in einen neuen Abschnitt…

So unglaublich es auch erscheinen mag: Geschichten wie diese, von der Felix Randau und seine Drehbuchautorin Vera Kissel, die den Stoff zunächst als Theaterstück schrieb, erzählen, kommen vor. Fragt man genauer nach und hört sich im Bekanntenkreis um, dann begegnet man Fällen wie diesen immer wieder. Geschichten, in denen es um Einsamkeit geht, um emotionale Erpressung, um Lügengeschichten, die dazu dienen, Zuneigung zu bekommen, die man anders nicht mehr erlangen kann. Manchmal sind es Anrufer, dann wieder virtuelle Bekanntschaften und oft genug auch reale Begegnungen, hinter denen sich solche Geschichten verbergen. Sie sind ein Symptom für vieles, was in unserer modernen Gesellschaft schief läuft, für Vereinsamung, soziale Kälte, für die Unfähigkeit, Anteil am Leben der Anderen zu nehmen und auch für die Zunahme psychischer Erkrankungen als Reaktion auf diese Tendenzen.

Felix Randau inszeniert diesen hochspannenden Stoff denkbar unspektakulär und zurückhaltend, vermeidet jegliche Emotionalisierung und Parteinahme, sondern begleitet Irm einfach auf ihrem Weg. Valerie Koch und Esther Schweins als gerade verwitwete Sina Lehmann agieren verhalten und glaubhaft, wobei vor allem die Darstellerin der Irm durch ihr ruhiges und facettenreiches Spiel fasziniert. Zwischen kindlicher Regression, Wahn, Hass auf die kranke, pflegebedürftige Mutter, vordergründigem Funktionieren. Langeweile und vollkommenem Rückzug oszilliert ihr Spiel, wechselt in Sekundenschnelle von der hellen auf die dunkle Seite. Esther Schweins bliebt hinter dieser schauspielerischen Leistung ein wenig zurück, erscheint als Figur nicht immer stimmig und glaubwürdig, zumal Ecken und Kanten fehlen.

All dies geschieht ohne Ausnutzung des Kitschpotenzials, das der Geschichte durchaus innewohnt. Ebenso verweigert sich Randau einer konsequenten Spannungsdramaturgie, die ebenfalls möglich gewesen wäre. Kühl taxierend bleibt die Kamera meist in der Ferne, registriert, nimmt auf, aber stellt niemals aus oder führt die Figuren im wahrsten Sinne des Wortes vor. Vieles bleibt angedeutet und der Phantasie des Zuschauers überlassen, alles, was wir über Irm erfahren, erklärt niemals so ganz, wie es dazu kam, dass sie wildfremde Menschen am Telefon systematisch manipuliert. Verurteilen mag man die junge Frau nicht, mehr als einmal macht Randau klar, dass das Spiel längst aus dem Ruder gelaufen ist, dass Irm immer wieder versucht, von den Telefonaten loszukommen – unzweifelhaft hat das Ganze einen zwanghaften Charakter.

Die Anruferin ist ohne Frage ein intensives Kammerspiel, und man merkt mehr als einmal, dass hier „Das kleine Fernsehspiel“ des ZDF koproduziert hat. Bei aller Begeisterung fragt man sich allerdings schon, wie weit die Annäherung von Kino und Fernsehen im deutschen Film eigentlich noch gehen soll – Die Anruferin ist bei aller Stärke geradezu ein Paradebeispiel für das Dilemma des anspruchsvollen deutschen Kinos, dem man seine Provenienz vom Fernsehen deutlich ansieht. Und das Beinahe-Happy-End wirkt wie ein mauer Kompromiss, der geradewegs der Feder eines Redakteurs bei einem Sender entsprungen zu sein scheint. Trotzdem: Die Stimme des Mädchens vom Anfang, die Gewaltigkeit des Lügengebäudes und der Grad der Vereinsamung und Verzweiflung von Irm, sie wirken nach. Wie nachhaltig dieser Eindruck ist, das wird sich zeigen.

Die Anruferin

Eigentlich ist es eine ganz normale Situation, doch die Widerhaken stellen sich schnell ein: Ein Kind möchte abends gerne eine Geschichte erzählt bekommen, am liebsten eine spannende, in deren Mittelpunkt der Hamster Murkel steht.
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