Der nackte Kuss

Eine Filmkritik von Marie Anderson

Eine Demaskierung des diabolischen Gutmenschentums

Diese Frau wütet und schlägt zu, und das nicht zu knapp: Die mondäne Prostituierte Kelly (Constance Towers) verprügelt ihren betrunkenen Zuhälter, streckt ihn zu Boden, nimmt ihm die Summe ab, die er ihr noch schuldet, um dann kaltblütig ihre verrutschte Perücke wieder aufzusetzen, ihr Foto aus seiner Sammlung zu entfernen und sich davonzumachen. Diese durch ausdrucksstarke Schattenspiele geradezu gespenstisch anmutende Szene bildet den Auftakt des Schwarzweißfilms Der nackte Kuss von Samuel Fuller aus dem Jahre 1964, der auf diese Weise seine energische Hauptfigur einführt.
Zwei Jahre später taucht Kelly am Bahnhof der Kleinstadt Grantville auf. Ihre Haare sind nachgewachsen, und nun erscheint sie als selbstsicherer, verführerischer Vamp, reist offiziell als Handelsvertreterin mit „Engelsschaum“-Champagner und schleppt gleich an Ort und Stelle den ausgebufften Polizisten Griff (Anthony Eisley) ab, der die schöne Fremde im Nachtclub seiner Freundin Candy (Virginia Grey) im angrenzenden Städtchen unterbringen will. Doch Kelly begibt sich in Grantville auf die Suche nach einer Unterkunft, quartiert sich bei einer warmherzigen Witwe ein und ist offensichtlich entschlossen, von nun an ihr Leben grundlegend zu verändern.

Bald darauf treffen wir Kelly als engagierte Krankenschwester in einem Hospital für gehbehinderte Kinder an, wo sie mit reichlich Herzblut und förderlicher Sorgfalt die kleinen Patienten ihrer Station betreut und sich rasch als gute Seele der Klinik einen Namen macht, die mit den Kindern ein phantasievolles, beieindruckendes Musical-Projekt inszeniert. Als Griff ihr dort begegnet, hält er ihr seine Zweifel an ihrer Wandlung von der berechnenden Hure zur sich aufopfernden Heiligen vor, doch Kelly weist sein Misstrauen zurück, und tatsächlich hat die innerlich vom Leben gezeichnete Frau offensichtlich hier ihre wahre Berufung gefunden.

Als der so wohlhabende wie großzügige Grant (Michael Dante), der Sponsor der Kinderklinik und Nachkomme des Stadtgründers, von einer Europareise heimkehrt, bahnt sich zwischen der kultivierten ehemaligen Hure und dem gebildeten, feinsinnigen Mann und rasch eine innige Bindung an, die von seinem guten Freund Griff argwöhnisch beäugt wird, der nach wie vor von Kellys Verschlagenheit überzeugt ist. Doch Kelly gesteht Grant ihre dubiose Vergangenheit, und dieser bittet sie daraufhin, seine Frau zu werden. Doch als Kelly mit ihrem Brautkleid in Grants Villa erscheint, erwischt sie ihren Verlobten in einer entsetzlichen Situation…

Die starke, facettenreiche Frauenfigur mit ihrer außergewöhnlichen Geschichte, die scheinbar integre Moral der idyllischen Kleinstadt, die prägnanten Männercharaktere sowie eine Atmosphäre des lauernden Unbehagens, die durch zahlreiche harmonische Sequenzen mit Kindern und eine ins Sentimentale neigende Stimmung so geschickt wie dezent angekündigt wird, machen aus Der nackte Kuss ein markantes, oftmals melancholisches Krimi-Drama von schwelender Intensität, das durch ganz hervorragende schauspielerische Leistungen besticht, allen voran die emphatisch agierende Constance Towers.

Wohl dosiert streut der US-amerikanische Filmemacher und Schauspieler Samuel Fuller die Details über die Motivationen seiner Figuren in die Dramaturgie ein, dessen Details mitunter zwar allzu konstruiert und latent unglaubwürdig erscheinen, doch es ist gerade diese vordergründig glatte Harmlosigkeit, die später schlüssig in die Demaskierung des diabolischen Gutmenschentums mündet. Kameramann Stanley Cortez (Die Nacht des Jäger / The Night of the Hunter) brilliert hier mit grandiosen, eindringlichen Bildern, die sich mit schleichender Hartnäckigkeit nachhaltig im Bewusstsein des Zuschauers niederlassen.

Der nackte Kuss

Diese Frau wütet und schlägt zu, und das nicht zu knapp: Die mondäne Prostituierte Kelly (Constance Towers) verprügelt ihren betrunkenen Zuhälter, streckt ihn zu Boden, nimmt ihm die Summe ab, die er ihr noch schuldet, um dann kaltblütig ihre verrutschte Perücke wieder aufzusetzen, ihr Foto aus seiner Sammlung zu entfernen und sich davonzumachen.
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