Der blaue Tiger (2012)

Eine Filmkritik von Rochus Wolff

Zarte Raubkatze Phantasie

Das sind die eigentlichen Zauberwelten: Die der unseren so nahe kommen, dass zuweilen die Unterscheidung zwischen Realität und Traumwelt, zwischen Zauber und Asphalt fast unmöglich wird, weil eines ins andere übergeht. Eine solche Welt zeichnet (im Wortsinn) der tschechische Film Der blaue Tiger auf die Leinwand, und wer sich einmal darauf einlässt, wird dem titelgebenden Tier gerne in seinen Urwald folgen.

Johanna (Linda Votrubová), neun Jahre alt, lebt mit ihrer Mutter (Barbora Hzánová) im Botanischen Garten der Stadt, in dem Herr Blume (Jan Hartl) mehr schlecht als recht versucht, die vielen Pflanzen gedeihen zu lassen; so richtig will es nicht sprießen, richtig wuchtige Pflanzenvielfalt sieht anders aus. Dafür blüht es in Johannas Phantasie; vor ihrem Auge wachsen Zeichnungen mitten in der realen Welt, und was sie in das Buch malt, das sie immer bei sich trägt, erwacht sofort zu bewegtem Leben. Sei es auf ihrem Schulpult, in ihrer Badewanne, an einer leeren Wand – immer bewegt sich mehr, als die Welt eigentlich zu bieten hat.

Ungefähr zur gleichen Zeit, da Bürgermeister Nörgel (Daniel Drewes) seine Pläne bekanntgibt, das gesamte alte Stadtviertel abreißen zu lassen, um dort einen hypermodernen Geschäftsbezirk samt – anstelle des Botanischen Gartens – Vergnügungspark hochzuziehen, wird eben dort immer wieder ein blauer Tiger gesichtet. Eine Figur ist das, die ganz offenbar Johannas Phantasie entsprungen ist und nun zwar echt, aber zugleich auch immer verschwindend und leicht glitzernd durch die Straßen schleicht. Aber erst im Botanischen Garten zeigt sich, wozu er wirklich fähig ist…

Regisseur Petr Oukropec lässt sich für seine bezaubernde, von Magie durchsetzte Geschichte viel Zeit; der Film könnte auch als Abenteuerfilm funktionieren, aber dafür lässt Oukropec es viel zu wenig auf die Handlungen seiner kindlichen Protagonisten ankommen: Hier reibt sich durch ein wenig Offenheit für das Unmögliche alles schon selbst zurecht. Es geht in Der blaue Tiger weniger um Action und Taten als um Offenheit, Phantasie und, na klar, Nostalgie.

Denn die Art von Kindheit, die Johanna lebt, wirkt wie aus einer idealisierten Vergangenheit in die Gegenwart gefallen: Ohne nennenswerten Einfluss der Massenmedien und des Computers, ganz dem Analogen verpflichtet – und so sind auch die (natürlich digital entstandenen) Effekte, die der Film verwendet, nie aufdringlich und überladen, sondern immer seiner Erzählhaltung verpflichtet.

Dabei ist Oukropec keineswegs weltfremd: Sein Bürgermeister Nörgel erregt sich über den Tiger vor allem als direkten Konkurrenten in der Aufmerksamkeitsökonomie: Es wird so viel über das Tier geredet, dass niemand sich für sein Neubauprojekt interessieren mag – bis er schließlich die geraden Linien und Sichtachsen seiner Bauweise preist, die die Jagd auf ein solches Tier leicht machen würden. Und damit, stets nur implizit, gesagt wird: Solche Häuser lassen keinen Raum für Abweichung und Eigenheiten.

Gänzlich antimodern ist der Film dabei natürlich doch nicht. Aber er gestattet sich die Auszeit von der Schnelllebigkeit, den hektischen Blicken, die auch den Kinderfilm oft genug durchziehen, um sich ganz ausführlich und mit großer Ruhe einer Phantasiewelt zu widmen, die ihren Zauber nicht aus Kampf und Action, sondern aus Wachstum, Veränderung und Farben bezieht. Und das wird, auch ohne jedes Geknalle, nie auch nur für einen Moment langweilig.
 

Der blaue Tiger (2012)

Das sind die eigentlichen Zauberwelten: Die der unseren so nahe kommen, dass zuweilen die Unterscheidung zwischen Realität und Traumwelt, zwischen Zauber und Asphalt fast unmöglich wird, weil eines ins andere übergeht. Eine solche Welt zeichnet (im Wortsinn) der tschechische Film „Der blaue Tiger“ auf die Leinwand, und wer sich einmal darauf einlässt, wird dem titelgebenden Tier gerne in seinen Urwald folgen.

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