Das Weiterleben der Ruth Klüger

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Erzählungen einer Überlebenden

Zu Beginn erscheint das Gesicht einer älteren Frau, bruchstückhaft erfasst die Kamera die Augen, den Mund, zeichnet die Falten nach, die Haare. Und erst mit der Zeit und aus dem unterlegten Gespräch begreift man, was dort gerade geschieht: Ruth Klüger befindet sich in der Maske, es ist die Vorbereitung auf einen ihrer zahlreichen Auftritte vor Publikum. Dann der Schnitt zu ihrem Auftritt vor dem österreichischen Parlament, vor dem sie am 5. Mai 2001 eine Rede zum Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus hielt. Doch wer ist diese energische Dame von vielleicht achtzig Jahren?
In der Welt der Literaturwissenschaft und der Germanistik ist Ruth Klüger eine der angesehensten Hochschullehrerinnen in den USA. Sie lehrte in Princeton (1980-86) und anschließend in Irvine an der University of California, war Gastprofessorin in Göttingen und gilt als eine der Koryphäen für das Werk Heinrich von Kleists. Zudem war sie lange Jahre Herausgeberin des Fachmagazins German Quarterly, das eine der wichtigsten internationalen Publikationen über Deutschland ist und viel mehr umfasst als nur germanistische Themen.

1992 erschien die Autobiographie Weiter Leben. Eine Jugend der 1931 in Wien geborenen amerikanischen Literaturwissenschaftlerin Ruth Klüger (auf die Welt kam sie mit dem Namen Susanne) und wurde zu einem internationalen Erfolg. In diesem vielfach ausgezeichneten Werk schildert die Holocaust-Überlebende ihre Kindheit in Wien, die Verschleppung in die Lager Auschwitz und Theresienstadt, die Flucht aus dem Lager kurz vor dem Zusammenbruch des Dritten Reiches, das Weiterleben in Deutschland und schließlich die Emigration in die USA im Jahre 1947.

Auch wenn der Titel des Films von Renata Schmidtkunz die Nähe zu dem Buch Klügers nahelegt, so ist der Film keine filmische Rekapitulation des literarischen Werkes, sondern viel mehr. Das liegt natürlich vor allem an Ruth Klüger selbst, aber ebenso an der bedächtigen und klugen Art, wie Renata Schmidtkunz mit ihrer Protagonistin umgeht, wie sie Widersprüchlichkeiten zulässt und betont, statt sie aus falsch verstandener Bewunderung glatt zu bügeln. Im Gegensatz zur Literatur macht der Film unter anderem Brüche und Widersprüchlichkeiten in der Selbst- und Fremdwahrnehmung deutlich, indem beispielsweise Klügers Unbehaustheit und die frühe Erfahrung von Diskriminierung und Heimatlosigkeit sicht- und spürbar wird in einer Gegenmontage, in der die Literaturwissenschaftlerin und ihre Söhne darüber sprechen, was sie als Heimat ansehen. Heimat, so könnte man die Haltung Ruth Klügers paraphrasieren, ist kein Ort, sondern vor allem ein Zustand des ‚Dazwischenseins‘. In ihrem Fall, den Renata Schmidtkunz buchstäblich mit unaufdringlicher, aber expressiver Kamera nachzeichnet, findet dieses ‚Dazwischen‘ an verschiedenen Orten statt: In Kalifornien, wo sie überwiegend lebt, aber auch in Göttingen, in Jerusalem und natürlich in Wien, der Stadt ihrer Kindheit, von der Ruth Klüger sagt: „Wiens Wunde, die ich bin und meine Wunde, die Wien ist, sind unheilbar.“ Dass sie gerade in dieser Stadt, in der sie bereits als Kind die Schrecken des Antisemitismus erfahren musste, heute ein gern gesehener und mehrfach ausgezeichneter Gast ist, kann diese Wunde zwar nicht heilen, aber erfüllt sie immerhin ein klein wenig mit Genugtuung.

Überhaupt spielen Kontraste und Ambivalenzen im Leben Ruth Klügers und damit auch in diesem Film eine große Rolle – auch wenn (und womöglich gerade deswegen) diese ungewöhnliche Frau immer wieder erwartete Gegensatzpaare aufbricht und neu kombiniert. „Der eigentliche Kontrast, der mich interessiert, ist nicht der zwischen Opfer und Täter, sondern der zwischen ‚Opfer sein‘ und ‚Frei sein‘ “, sagt sie zu Beginn des Filmes. Erst mit der Zeit begreift man, welche ungeheure Kraft in dieser Umdeutung steckt – und das gleich im doppelten Sinne: Zum einen, weil diese Setzung ganz neue Energie freisetzt, zum anderen aber auch, weil es vermutlich enormer psychischer Anstrengungen bedarf, um sich auf diese Weise ein Leben, das in der Kindheit so traumatisiert wurde, wieder anzueignen.

Das Weiterleben der Ruth Klüger ist auch das Porträt einer bewundernswerten, warmherzigen und eloquenten Frau, das trotz der Schwere der Erfahrungen beinahe schon einen leichten Eindruck macht und das in keiner Sekunde langweilig oder redundant zu werden droht. Und darüber hinaus hat man das Gefühl, dass Schmidtkunz viel mehr gelungen ist als das: In ihrem Film hat sie der Sprache Klügers und ihren Erzählungen aus ihrem Leben Bilder kongenial an die Seite gestellt, aus denen die Holocaust-Überlebende selbst zu sprechen scheint. Das macht die außerordentliche Wirkung dieses Filmes aus, nachdem man fast unweigerlich zur Lektüre von Ruth Klügers Kindheitserinnerungen und ihrer weiteren Bücher greifen möchte. Und man ist überzeugt davon, dass dies mindestens ein ebenso großer Gewinn sein wird wie dieser Film.

Das Weiterleben der Ruth Klüger

Zu Beginn erscheint das Gesicht einer älteren Frau, bruchstückhaft erfasst die Kamera die Augen, den Mund, zeichnet die Falten nach, die Haare. Und erst mit der Zeit und aus dem unterlegten Gespräch begreift man, was dort gerade geschieht: Ruth Klüger befindet sich in der Maske, es ist die Vorbereitung auf einen ihrer zahlreichen Auftritte vor Publikum. Dann der Schnitt zu ihrem Auftritt vor dem österreichischen Parlament, vor dem sie am 5. Mai 2001 eine Rede zum Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus hielt.
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