Das Irrlicht (Digital Remastered)

Eine Filmkritik von Patrick Holzapfel

Herzenskrank

„Wer solche Last zu heben sinnt / Braucht, Sisyphus, deine Stärke / Und hat er Herz auch zum Werke — / Die Kunst ist lang, die Zeit entrinnt (aus Unstern von Charles Baudelaire).
Wie und tatsächlich durch Glas betrachtet Louis Malle seinen verblassenden Helden des Selbstmords: Alain, verkörpert in formvollendeter, eleganter Leere von Maurice Ronet, der seine vielleicht zwei eindrücklichsten Rollen bei Malle hatte. Zum einen in Fahrstuhl zum Schafott und zum anderen eben in Das Irrlicht, jener von Erik Saties Musik durchtränkte Ode an die Abwendung vom Leben. In Bildern und beeindruckenden Sätzen erzählt der Film von der Unfähigkeit zu berühren, einem erloschenen Licht in der Tiefe einer existentialistischen Leere, die zum Teil auch Folge einer exzessiv gelebten Jugend und versickernder Träume ist. Es geht um einen Mann, der — aus dem Alkoholentzug kommend — einen Tag verbringt, bevor er sich umbringen will. Wie Joachim Triers Oslo, 31. August basiert der Film auf Pierre Drieu La Rochelles Roman Das Irrlicht. Der offensichtlichste Unterschied jenseits von Ort und Zeit zwischen den beiden Filmen ist das Alter der Protagonisten. Der blasse, schöne Anders bei Trier ist noch deutlich näher an dem gebaut, was er vermisst, was er nicht verlassen will, während der ebenso schöne, von allen bewunderte Alain den verdrängten Schritt in die Hingabe an das Erwachsenenalter, an das, was man Reife nennt oder Selbstaufgabe, schon lange hätte machen müssen. Zumindest nach den Regeln gesellschaftlicher Maßstäbe, zumindest dann, wenn man etwas sein will, sich sein Sein gerecht reden will. Folgerichtig schwimmt bei Trier auch eine deutlich größere Wut und Verzweiflung über die Unfähigkeit zu Fühlen mit als bei Malle, bei dem alles nur mehr so passiert, entrückt und gebadet in Melancholie und mit deutlichen Anleihen an die Existentialisten samt deren Überfigur, dem Fremden von Albert Camus.

Es ist eine Ästhetik der verknitterten Hemden, die im kontrastreichen Schwarz, welches das Weiß der Bilder schluckt, erblühen würde, wenn sie nicht nur Blumen für die Gräber besingen würde. Selten hat es wohl einen Film gegeben, der so überzeugend und identifikationsstiftend von Todessehnsucht erzählt. Die Augenringe, durch die man auf Gesichter blickt, die Malle immer wieder, wie im Fall der kleinen Rolle von Jeanne Moreau, hinter Glas fotografiert oder aber — und das ist noch viel effektiver — in beständigen, vorbeiziehenden Blicken, die etwas versprechen und versprechen und versprechen, aber nichts berühren, wollen nicht mehr leben. Es gibt keine Angst mehr vor dem Leben, der Trotz eines Suizids setzt ein, der hier lange nicht so fatalistisch und intim inszeniert wird wie in den Seelenfilmen von Philippe Garrel, sondern fast klinisch, kühl.

Die Verzweiflung in Das Irrlicht ist auch ein sarkastischer Trott, ein bitteres Lächeln, das kaum über die Mundwinkel huscht, aber immerzu im Ersticken aufleuchtet, ein Irrlicht eben. Der Film besteht aus vieler solcher Irrlichter, eben in den Blickkontakten und auch in den kurzen, aufflackernden Berührungen, für die Malle oft in hektische Nahaufnahmen schneidet und damit äußerst effektiv deren Flüchtigkeit, Irrealität betont. An manchen Stellen ist der Transfer von Literatur zu Film etwas steif, vielsagende Sätze werden gesagt, man findet etwas Symbolisches in der Kadrierung, das dem Vorbeihuschen, dem Trunkensein in der melancholischen Erfahrung etwas entgegenläuft. So steht Alain an einem Fenster und äußert, dass er die Sonne berühren wolle. Dass diese schwebenden Zustände dem Film nicht um die Ohren fliegen, hängt auch und vor allem daran, dass die Form des Films sich als Wahrnehmung des Protagonisten entpuppt. Es ist eine Lehrstunde für den distanzierten Blick und Malle, der zu vielseitig war, aber auch zu wackelig, um ihn als Autoren zu erkennen, bedient sich hier in Vollendung einer Mise-en-Scène, die von den Giganten seiner Zeit, also Ingmar Bergman oder Michelangelo Antonioni, vorgelebt wurde. Er tut dies aber auch im Geist der jungen Nouvelle Vague. Malle, der mehrfach neue Leben und Karrieren begann, fühlt sich hier, wie in seinem problematischen und oftmals zu Unrecht angeklagten Lacombe Lucien am wohlsten, wenn er nicht die Schönheit des Lebens filmt, sondern deren grausamen Verlust.

Ein vielsagender, in seiner Kraftlosigkeit starker Moment entsteht, als der Alain behandelnde Arzt in der Türschwelle stehen bleibt und sagt: „Das Leben ist gut“, wobei man in seinen sich senkenden Augen, seiner schluckenden Stimme erkennen kann, dass er es nicht aufrichtig glauben kann. Man erkennt es, weil es Alain erkennt. Im Lauf des Tages ist Alain umgeben von möglicher Liebe und Freundschaft. All diese Potenziale durchschaut er aber als Konstrukte, als von Körpern und Idealen befreite Gesten. Es sind nur mehr Rollenspiele, die sich da in ihm verzehren, am eindrücklichsten wird das im Haus eines Dichters klar, der redet und redet und redet, während er wie alle anderen auf Sofas liegt. Eigentlich ist in diesem Film schon das angelegt, was Jean Eustache Jahre später in deutlich größerer Dringlichkeit in La Maman et la Putain filmte. Das Sterben von Illusionen, von Träumen im Angesicht einer Selbstrechtfertigung. Nur wo Eustache fast dokumentarisch-direkt auf das Paris der 1970er blickt, bleibt Malle im fiebrigen Traum einer inneren Welt. Vielleicht weil die echte Welt dieses Sterben von Illusionen erst noch erleben musste. In dieser literarischen Welt liegt dann auch, obwohl man aufgrund des Alters von Ronet schon auch eine Midlife-Crisis spüren kann, der sterbende Enthusiasmus einer Jugend und die fehlende Möglichkeit, dieses Sterben zu akzeptieren. Es ist diese von den Existentialisten immer wieder verneinte und doch angelegte Scheidung zwischen dem Menschen (dem intellektuellen Mann) und der Welt, die im Film gewaltvoll, irgendwie fließend wie ein Sog über alles kommt, was man sehen und fühlen kann.

Das Irrlicht ist ein Film der toten Zeit. Nicht unbedingt im Sinne von Deleuze, sondern vielmehr so, dass sich Zeit nicht mehr wiederbeleben lässt. Er ist definitiv einer der Urfilme, der vor sich selbst und dem Leben flüchtenden Männer, die sehr unterschiedliche Ansätze von Marco Ferreris Dillinger ist tot bis zu Tom Fords A Single Man hervorgebracht hat.

Arthaus bringt den Film in einer schönen, neuen DVD- (und Blu-ray-)Ausgabe heraus. Als Bonus gibt es Malles Kurzfilm Vive le Tour, der in seiner farbig-fröhlichen Umtriebigkeit nicht wirklich zu Das Irrlicht passen will, selbst wenn Alain dort einmal ein Radrennen passiert und beide Filme gleichzeitig entstanden sind. Der Kurzfilm fängt mit schnellen Schnitten und großer Dynamik das französische Nationalereignis Tour de France vor allem aus der Perspektive der Geschwindigkeit ein. Diese Geschwindigkeit beherbergt letztlich Humor, Betrug und Tragödie, also genau das Leben, das man in Das Irrlicht verzweifelt sucht. Es ist sehr gut, dass man diesen Filmschatz nun auch auf DVD und Blu-ray erwerben kann.

Das Irrlicht (Digital Remastered)

„Wer solche Last zu heben sinnt / Braucht, Sisyphus, deine Stärke / Und hat er Herz auch zum Werke — / Die Kunst ist lang, die Zeit entrinnt“ (aus „Unstern“ von Charles Baudelaire).
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