Berlin Syndrom (2017)

Eine Filmkritik von Harald Mühlbeyer

Gefangen in Berlin

Stockholm-Syndrom: Das Opfer verliebt sich in ihren Entführer. Berlin-Syndrom: Genau umgekehrt. Erst verliebt sich Clare (Teresa Palmer). Dann ist sie gefangen. Nach Lore kehrt die Australierin Cate Shortland mit ihrem dritten Spielfilm Berlin Syndrom nach Deutschland zurück und erforscht in diesem spannenden Horror-Thriller die Beziehungen zwischen Entführer und Opfer, von Sex und Gewalt, von Kontrolle, Widerstand und Akzeptanz, von der Suche nach Perfektion und vom Kampf gegen das Gegebene.

Clare kommt als Backpackerin nach Berlin. Sie ist ziemlich verloren in der großen Stadt; der Fotoapparat gibt ihr Halt: Sie will als Künstlerin wachsen, ist fasziniert von der DDR-Architektur, das ist alles neu und anders als daheim in Australien … Auf der Straße begegnet sie Andi, zufällig – Max Riemelt spielt ihn als unbeholfenen Charmebolzen. Ein Englischlehrer, der angesichts der Australierin immer wieder nach den richtigen Worten sucht, der ihr von Berlin erzählt, die Schrebergärten zeigt. Der so zärtlich ist beim Sex. Ein One-Night-Stand, der sich als Eingang zur Hölle entpuppt. „Dich kann hier keiner hören“, versichert Andi, und das ist vielleicht nur so gemeint, dass Clare ihre Lust hinausschreien kann. Und dass er am nächsten Tag vergisst, für Clare einen Schlüssel in der Wohnung zu lassen, könnte ein Versehen sein. Aber bald merkt sie, dass sie seine Gefangene ist. „Meine“ schreibt er auf ihre Schulter; die Wohnungstür ist mit einem fetten Bolzen versehen – Einbrecherschutz ist auch gut gegen Ausbruchsversuche …

Clare sitzt fest. In seiner Wohnung in einem uralten, halb verkommenen und völlig verlassenen Gebäude. Die Fenster sind aus Panzerglas. Wenn sie einen Stuhl dagegen schmeißt, wird Andi sauer: Der war teuer! Andi dagegen lebt sein Leben nach außen ganz normal. Geht zur Schule, gibt Unterricht. Trifft sich mit Kollegen. Besucht den Vater. Der ist Uniprofessor für Literatur und sieht die DDR durchaus nicht als reinen Unrechtsstaat an – das ist ein Subtext, der einerseits erstaunlich ist angesichts einer australischen Regisseurin, andererseits in ihrem Werk durchaus konsequent, hat Shortland doch mit Lore das Drama einer jungen Nationalsozialistin nach dem Zusammenbruch ihres Landes und ihres Weltbildes 1945 verfilmt.

Die rigide Kontrollsucht der DDR – so sehr Andi mit dem Vater über die Vergangenheitsbewertung und -bewältigung diskutiert, so sehr scheint ihn sein Aufwachsen geprägt zu haben. Andi ist auf der Suche nach dem perfekten Zusammenleben. Und sieht seine einzige Möglichkeit dazu darin, perfekte Frauen zu fangen, einzusperren und sie in sein Leben zu zwingen – vielleicht ist auch dies ein Berlin-Syndrom … Dies ist aber nur ganz nebenbei, ganz beiläufig in den Film eingesponnen – und dennoch und gerade deshalb wichtig, weil es den Figuren, der Situation Gehalt verleiht.

Was die Handlung angeht: Da ist Berlin Syndrom ein perfekt gestalteter Entführungsthriller, der mit seinen ambivalenten Charakteren punktet und seine ausgeklügelte Dramaturgie spannungsvoll ausspielt. Clare widersetzt sich, Clare resigniert, Clare akzeptiert. Immer wieder dreht Andi Strom und Wasser ab, Zermürbung, kleinhalten … Und irgendwann ist Weihnachten, im Wald suchen die beiden einen Christbaum und Clare ist psychisch schon viel zu schwach, diese Gelegenheit zur Flucht zu ergreifen. Und Andi mit seiner großen Axt ist durchaus bedrohlich – denn immer schwingt auch die Frage mit, wie lange er Clare noch perfekt findet. Und was er mit ihr tun könnte, wenn er ihrer überdrüssig wird … Nach der Kollegen-Silvesterfeier, auf der Andi ausfällig wurde gegenüber der Gastgeberin, weil sie ihn am Arm berührt hat, fährt er durch Berlin, Feuerwerk, er spricht eine französische Touristin an, die mögliche Nachfolgerin …

Shortland kann Genre. Sie kann Charaktere schildern. Sie kann Spannung aufbauen. Die Sensibilität, die sie in ihren beiden vorherigen Filmen Somersault und Lore gezeigt hat, setzt sie in Berlin Syndrom zur vollen Wirkung ein. Und bis zum Schluss bleibt unklar, wer der Sieger wird in diesem Zweikampf; und was für einen Sieg alles getan werden muss.

Berlin Syndrom (2017)

Nach „Lore“ kehrt die Australierin Cate Shortland mit ihrem dritten Spielfilm „Berlin Syndrome“ nach Deutschland zurück und erforscht in diesem spannenden Horror-Thriller die Beziehungen zwischen Entführer und Opfer, von Sex und Gewalt, von Kontrolle, Widerstand und Akzeptanz, von der Suche nach Perfektion und vom Kampf gegen das Gegebene.

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