Balkan Melodie

Eine Filmkritik von Stephan Langer

"Das Kollektiv hat unser Stroh gestohlen, jetzt haben wir nur noch unsere Eier"

Bereits mit den ersten stimmungsvollen Klängen der Tonspur zieht Balkan Melodie, der neue Film des Schweizer Musikdokumentarfilmers Stefan Schwietert, einen auf seine Seite. Gespannt lauscht man da mysteriösen Frauenchorälen, der Reinheit ihrer Stimmen, den ätherischen Klangteppichen, die sie bilden. Die älteren unter uns werden sie vielleicht wiedererkennen. Es sind die hypnotisierenden Stimmen von Le Mystère des Voix Bulgares, dem ehemaligen staatlichen Radio- und Fernsehchor Bulgariens. Eben jenen Chor hat Marcel Cellier, Schweizer Musiker, Produzent und ethnologischer Pionier in Sachen osteuropäischer Weltmusik, in den 1980er Jahren weltbekannt gemacht. Der hypnotische Zauber des kehligen Sirenengesangs zieht den Zuschauer direkt hinein in die zu Beginn zu sehenden, wunderbaren Privataufnahmen von Straßenszenen im sowjetischen Osten. Eine kongeniale, jedoch hintersinnige Bild-Ton-Kombination, wie wir später sehen werden.
Man kann sich bei diesem Anfang lebhaft vorstellen, wie Marcel Cellier seit den 60er Jahren über 40 Jahre hinweg immer wieder mit seiner ebenso musikbegeisterten Frau auf abenteuerlicher Tour in der damals verschlossenen Welt hinterm eisernen Vorhang umher zuckelt. Geschäftlich ist er unterwegs als Kaufmann für eine Schweizer Erz- und Metallfirma, privat macht er nebenbei und leidenschaftlich Feldaufnahmen von verschiedensten Musikern, die er später eigenhändig in seinem Tonstudio im Keller zu Radiosendungen zusammenschneidet, veröffentlicht und damit neben unzähligen Plattenproduktion auf seinem eigenen Label Disques Cellier die gefundenen Musikschätze international bekannt macht. Auf den Reisen waren die Rollen des Ehepaars Cellier klar verteilt: er fuhr, sie fotografierte und filmte. Auf den Knien hatte sie außerdem ein kleines Emerson Radiogerät, mit dem sie Radio Sofia, Radio Bukarest und Radio Skopje empfangen konnten. So fuhren sie immer tiefer hinein in die Landschaft und ihre Musikwelt und lauschten dabei entzückt den entrückten und im Westen völlig unbekannten, fremdartigen Klängen und Gesängen. Schwietert nimmt in seiner Dokumentation Balkan Melodie die Spuren der beiden Reisenden wieder auf, verwendet aktuelle Interviews mit ihnen als roten Faden und erzählt drumherum episodisch von verschiedensten Entwicklungen, die die osteuropäische Volksmusik zuerst im Sozialismus, dann im Kapitalismus, durchgemacht hat. Eines bleibt über die Jahre immer gleich: sie wurde vereinnahmt und für bestimmte Zwecke ausgenutzt, zuerst für propagandistische als eine Art kommunistische Hochleistungsfolklore, später dann für finanzielle bei der kommerziellen Vermarktung der Musik als ungebändigt und sprühend vor ausgelassener Lebensfreude.

Balkan Melodie montiert ethnographische, biographische, musikalische und gesellschaftliche Schlaglichter zu einem vielschichtigen, filmischen Panorama. Er gibt einen Abriss über die Musik und das Musikschaffen in der Balkanregion über die letzten 50 Jahre. Die Erzählstruktur ist dabei keine lineare, sondern eine parallele. Schwietert fuhr erneut in verschiedene Länder der Region, besuchte Protagonisten der damaligen Volksmusik, die mit Celliers Erkundungen in Verbindung stehen. Ein Beispiel wäre hier der Panflötenvirtuose Gheorghe Zamfir, an den sicherlich alle Späthippies der 70er Jahre noch wohlige Erinnerungen haben. Schnell erlangte er im westlichen Europa Kultstatus, weil er mit seinem Instrument wunderbar als Projektionsfläche diente: er konnte zirkusartistisch darauf spielen und bediente mit seinen Klängen exotische Sehnsüchte nach einem ursprünglichen und reinen Kulturgut. Bis ins Fernsehen schaffte er es, und alle konnten ihm schmachtend zuhören beim Vertonen seines Schäferidylls. Heutzutage unterrichtet der einstige Star so gut wie vergessen an einer Musikschule in Bukarest. Im Interview schwadroniert er in einer Mischung aus Größenwahn und konservativer Borniertheit vor sich hin, es geht um die reinigende Kraft von göttlicher (sprich: seiner) Musik gegenüber den satanistischen Klängen, die drohen, die Welt zu verschmutzen.

Ein zweiter Eckpunkt in Celliers Entdeckungen und somit auch des Films sind die bereits zu Beginn erwähnten, äußerst sympathischen Frauen des ehemaligen staatlichen Radio- und Fernsehchors Bulgariens. Auf wunderbare Weise wird an deren Beispiel für jeden Zuhörer deutlich, wie man auch selbst ganz leicht klischeehaften Projektionen erliegt. Zu Beginn des Films nämlich ist man fasziniert von den Chorstimmen und deren authentischer Archaik, später erfährt man allerdings von den Sängerinnen und der Dirigentin, dass bereits während des bulgarischen Regimes in den Dörfern die besten Sängerinnen gecastet wurden. Einheimische Komponisten schrieben auf Basis alter Chorsätze eine neue Musik, durchzogen mit effektvoll gesetzten Dissonanzen. Das Mysterium dieser bulgarischen Singstimmen ist also ein Kunstprodukt aus Archaik und Moderne. Ein Ergebnis des damaligen Kulturbüros, kommunistische Kulturförderung at its best sozusagen.

Überhaupt: Balkan Melodie ist eine überaus launige Anhäufung von Anekdoten und Interessantem, so manches Geglaubte muss während des Films aufgegeben werden. Selten hat das Hinterlassen von vermeintlichen Gewissheiten so viel Spaß gemacht wie beim Schauen dieses Films! Schwietert zeigt die einfache, oft vergessene Wahrheit, dass Volksmusik keinen authentischen Kern hat, den es sich zu suchen lohnt. Balkan Melodie ist zum Glück keine Suche nach den Wurzeln dieser Musik. Bei der verhält es sich nämlich schon immer so: Verschiedene Stile durchmischen sich, werden verworfen, modernisiert, poppig, mit anderen Worten: sie werden davongetragen, weitervererbt und kehren verändert wieder zurück. Volksmusik ist Gemischtes von Anfang an. An einer Stelle des Films erzählt der inzwischen alte Bauernsohn Ioan Pop, der im Kommunismus als Folkloremusiker sein Geld verdiente, dass die alten Lieder, die vorher im Alltag der Menschen integriert waren, bei ihnen zu Hause, auf dem Feld, bei der Arbeit oder zu besonderen Anlässen gesungen wurden, von den Funktionären in einen anderen Kontext gestellt wurden. Der Raum wurde auf einmal neu strukturiert: plötzlich gab es eine Bühne für die Künstler und einen Zuschauerraum für das Publikum. Musik wurde dargeboten, allerdings vom früheren, realen Zusammenhang abgekoppelt, dafür an den ideologischen Zusammenhang angekoppelt, als Kunst präsentiert. Natürlich sollten auf diesen linientreuen Folkloreabenden erbauliche Lieder eines idealen Kommunismus gesungen werden. So gesehen ist Volksmusik bereits im Kommunismus instrumentalisiert worden, erst viel später kamen dann die Musikmanager aus dem Westen, um sich mit „Neuentdeckungen“ eine goldene Nase zu verdienen.

Balkan Melodie ist ein Genuss für Augen und Ohren. Es ist einfach wunderbar zu sehen, wie der eben erwähnte Ioan Pop zusammen mit einem alten Bauern, einem Musikerkollegen von früher, trinkt und Lieder singt. Sie intonieren rohe Melodien, die sie eigentlich auf den Folkloreabenden hätten singen wollen, angereichert mit derben und spöttischen Texten: „Das Kollektiv hat unser Stroh gestohlen / Jetzt haben wir nur noch unsere Eier / Meine Mutter sagte: Mit drei Promille kann mein Mann nicht mehr / Gefickt sei die Mutter des Kollektivs!“ Der alte Bauer singt schelmisch mit, er saß unter Ceausescu jahrelang im Gefängnis, weil er sich gegen die Enteignung seines Hofes wehrte. Nicht nur aufgrund solcher Anekdoten ist es gut, dass er den dramaturgischen Rahmen, den Schwietert sich mit dem Ehepaar Cellier zu Beginn setzt, später durchbricht und hinter sich lässt. So kann er sich vom westlichen Blick Celliers lösen, all die verschiedenen Musiker sprechen lassen, die so unterschiedlich über ihr musikalisches Erbe und ihre Kunst denken und empfinden.

Alle Facetten sind dabei vertreten, bis hin zu jüngeren, postsowjetischen Entwicklungen der Musik, mit denen die Celliers nicht mehr viel zu tun haben. Aktuelle Balkanmusik ist geprägt von jenen internationalen Einflüssen, die nach dem Zerfall des Kommunismus in diese Staaten fluteten. Regelmäßigen Kinogängern ist Balkanmusik spätestens seit den Filmen von Emir Kusturica ein Begriff. Heutzutage befinden sich Balkanpop und Gypsyswing auf einem kommerziellen Erfolgszug rund um die Welt. Gerade noch rechtzeitig, so ereilt einen das Gefühl beim Schauen von Balkan Melodie, hat Stefan Schwietert die Spuren von den fast vergessenen Musikern wieder aufgenommen. Rechtzeitig, bevor alle von den damals Beteiligten das Zeitliche segnen. Herausgekommen ist ein glänzendes Denkmal, kunterbunt, nostalgisch und modern, aufbrausend, chaotisch.

Balkan Melodie

Bereits mit den ersten stimmungsvollen Klängen der Tonspur zieht Balkan Melodie, der neue Film des Schweizer Musikdokumentarfilmers Stefan Schwietert, einen auf seine Seite. Gespannt lauscht man da mysteriösen Frauenchorälen, der Reinheit ihrer Stimmen, den ätherischen Klangteppichen, die sie bilden. Die älteren unter uns werden sie vielleicht wiedererkennen. Es sind die hypnotisierenden Stimmen von „Le Mystère des Voix Bulgares“, dem ehemaligen staatlichen Radio- und Fernsehchor Bulgariens.
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