Attenberg

Eine Filmkritik von Beatrice Behn

Diese Spezies namens Mensch

Das neue griechische Kino ist faszinierend und verstörend zugleich. Zusammen mit Giorgos Lanthimos‘ Filmen Dogtooth und Alps schafft Athena Rachel Tsangaris Attenberg (in dem Lanthimos sogar eine Rolle übernimmt) einen Film, der sich in den neuen Kanon griechischer Filmkunst einreiht, den man vielleicht am treffendsten mit „magischem Formalismus“ beschreiben könnte.
Attenberg ist benannt nach Sir Richard Attenborough – und es sind dessen Tierdokumentationen, aus denen Marina (Ariane Labed) versucht, sich ein Bild der menschlichen Sexualität zu machen. Dass sie diesen seltsamen Umweg wählt, ist für sie selbst nur logisch, denn mit den Menschen selbst kann sie eigentlich nichts anfangen. Diese sind für sie eigenartige und unfassbare Wesen wie von einem anderen Stern, die in ihr einfach nichts an Gefühlen auslösen wollen. So seltsam wie deren Emotionen sind auch die körperlichen Regungen und Vereinigungen dieser Spezies, wobei die Sexualität andererseits auch so anziehend ist, dass Marina sich unbedingt herantasten möchte. Behilflich ist ihr dabei ihre beste Freundin Bella (Evangelina Radou), die ihr Grundzüge der körperlichen Seite der Liebe wie Zungenküsse und Ähnliches beizubringen versucht.

Mit dieser Szene, den Zungenküssen der beiden Mädchen, beginnt der Film auch und es wird sofort klar, hier ist nichts normal, nichts schön. Vielmehr wird Tsangaris Welt beherrscht von einem strengen Formalismus. Die Kamera ist oft statisch, filmt immer wieder an den gleichen Orten, die Schnitte sind rau und deutlich spürbar gesetzt – alles ist langsam und zerdehnt in Attenberg, nichts fügt sich dem Takt, den wir sonst aus Filmen kennen, sondern gehorcht ganz eigenen Regeln und Gesetzmäßigkeiten. Doch es ist nicht nur der Film, dessen Gang und schleppender Rhythmus sich unseren Sehgewohnheiten radikal widersetzen, seine Protagonisten und deren Geschichte sind es ebenso. Nichts hat hier einen natürlichen Flow oder folgt dem gewohnten Gang der Dinge: Sobald sich für einen kleinen Moment so etwas wie Normalität und Konformität einschleicht, folgt mit großer Erbarmungslosigkeit die nächste Verstörung. Das alles macht den Film zu einem ungewöhnlichen Filmerlebnis, zugleich aber auch zu einer „Schule des Sehens“, bei der fast nichts vertraut ist, sondern sich alles auf aufregende Weise neu und spannend anfühlt.

Das neue griechische Kino ist definitiv nichts für Zuschauer, die gern eine Erklärung für alles hätten. Da verwandeln sich die beiden Mädchen plötzlich in Hund-Menschen, die sich gegenseitig beknurren oder verfallen auf der Straße immer wieder in Tänze, die an Monty Pythons Ministry of Silly Walks erinnern. Doch Attenberg verliert sich nie in seinen Unterbrechungen und Surrealismen — im Gegenteil. Sie bringen die Geschichte oft weiter als die Dialoge, die oftmals klingen, als entstammten die Protagonisten einer anderen Welt. Zudem sind die Dialoge voller Symbole und schwer zu entschlüsselnder Querverweise und verbalisieren manchmal innerhalb von drei Sätzen so viele gesellschaftliche Tabus, dass einem schwindlig wird.

Attenberg ist ein Film, der fordert und herausfordert. Nichts an ihm ist einfach, nicht alles ist zu verstehen und oft muss man sich mit viel Geduld durch Szenen tragen, denn Tsangari gibt für ihr verrätselt-bizarres Kunstwerk keinerlei Hilfestellung und macht so gut wie keine Zugeständnisse an den Unterhaltungswert ihres Filmes. Belohnt wird man trotz allem mit einer ganz neuen und erfrischenden Art, Film als Kunst- und Erzählform zu erfahren – es ist eine Mühe, die sich lohnt.

Attenberg feierte seine Premiere beim Internationalen Filmfestival Venedig 2010 und gewann den Preis für die beste Hauptdarstellerin. Nun steht fest, dass der Film auch in Deutschland mit einiger Verzögerung den Weg in die Kinos findet. Das wird auch höchste Zeit. Denn so desolat die wirtschaftliche Lage Griechenlands derzeit auch sein mag, so aufregend sind die Filme, die seit einiger Zeit von dort die Festivals der Welt erobern.

Attenberg

Das neue griechische Kino ist faszinierend und verstörend zugleich. Zusammen mit Giorgos Lanthimos‘ Filmen „Dogtooth“ und „Alps“ schafft Athena Rachel Tsangaris „Attenberg“ (in dem Lanthimos sogar eine Rolle übernimmt) einen Film, der sich in den neuen Kanon griechischer Filmkunst einreiht, den man vielleicht am treffendsten mit „magischem Formalismus“ beschreiben könnte.
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