Arrietty - Die wundersame Welt der Borger

Eine Filmkritik von Lida Bach

Klein, aber fein

Ein Puppenhaus. So sieht das kleine Heim aus, in dem die 14-jährige Arrietty (Sprecherin: Mirai Shida) mit ihrer kleinen Familie lebt. Zum ersten Mal darf sie ihren Vater Pod (Tomokazu Miura) nachts auf seinen Schleichwegen begleiten. Und das, obwohl der Tag der jungen Hauptfigur des munteren Animationsstreichs aus dem japanischen Studio Ghibli, aus dem schon Meisterwerke wie Das wandelnde Schloss und Mein Nachbar Totoro in die Kinos kamen, bereits ein Abenteuer brachte. Der Alltag ist voller Abenteuer, wenn man eine Heftklammer im Haar trägt. Dem gleichaltrigen Sho ist Arrietty begegnet. Der große Junge (Ryunosuke Kamiki) ist mit seiner Tante Sadako (Keiko Takeshita) in das große Haus gezogen. Doch von gefährlichen Freundschaften will Arriettys Mutter Homily (Shinobu Otake) nichts wissen. Viele Freundschaften sind gefährlich, wenn man eine Nähnadel als Schwert trägt. Die Klammer und die Nadel sind geborgt. Sie borgt oft von den Menschen, die nichts von ihr wissen. Denn Arrietty und ihre Familie sind keine Menschen.
Die abenteuerlustige Titelheldin, ihre stets besorgte Mutter und der pragmatische Vater sind sowohl zeichnerisch wie auch dramaturgisch so lebensecht gestaltet, dass man zuerst beinah vergisst, was sie von Sho und den anderen Hausbewohnern unterscheidet. Sadakos Hauskatze ist für die Hauptcharaktere von Mary Nortons preisgekröntem Kinderbuchklassiker Die Borger eine drachengroßes Ungetüm, eine Krähe ein gewaltiger Vogel Rock. Doch der Mikrokosmos der besonderen Art, den Animationskünstler Yonebayashi in seinem Regiedebüt preisgibt, birgt nicht nur Gefahren, sondern auch Wunder. Ganz nebenbei öffnet das visuelle Meisterwerk die Augen für das Geheimnisvolle und für die Magie, die sich im scheinbar Alltäglichen versteckt.

Vom Vorspann, der wie bei allen Klassikern der Ghibli-Studios ein Kunstwerk für sich ist, bis zum lyrischen Ausklang weckt die kongeniale Romanverfilmung den Respekt vor all dem, was als hilflos und zu zerbrechlich für die Welt erscheint.

Arrietty — Die wundersame Welt der Borger ist ein Film ohne Ende, weil eine Geschichte, die keinen Anfang braucht, nicht plötzlich aufhören kann. Die Erzählung gleitet sanft dahin, ohne Eile und dennoch unaufhaltsam gleich jenem Bach, der die Borger in eine ungewisse Zukunft trägt. Das Motiv des Wassers symbolisiert den unerbittlichen Verlauf der Zeit und den Lebensfluss der Charaktere. Unbarmherzig gehen sie über Shos Gesundheit und Arriettys Dasein hinweg. Zieht die Hausangestellte Haru das Dach vom Zuhause der Borger, entzieht sie ihnen sinnbildlich die Existenzgrundlage: ihre Verborgenheit. Die Heimlichkeit der Borger und ihre winzige Gestalt fügen sich zu einer Allegorie versteckter Kraft. Ihren vermeintlichen Nachteil haben die Borger zu ihrem Vorteil gemacht. Dass niemand von ihnen weiß, heißt noch lange nicht, dass sie nicht da sind.

Die Furcht der Eltern vor Entdeckung rührt an die unterschiedlichen Arten der Wahrnehmung. Sehen und Begreifen zeigt die sinnreiche Erzählung als zwei unabhängige Prozesse, die manchmal einander entgegengesetzt sind. Sadako ahnt um das Geheimnis, obwohl sie nichts sieht. Sho glaubt daran noch bevor er sicher ist, was er erblickt hat. Er empfindet Fürsorge für die unscheinbaren Wesen, deren Überlebenskampf in einer gigantischen Umwelt seinen physischen Kampf gegen die Herzkrankheit widerspiegelt. Haru verfolgt die Borger mit den Augen eines Raubtiers, bedrohlicher als die Katze, von der Arrietty zuerst aufgestöbert wird. Aus der Perspektive des Miniaturvolks erinnert sie an ein Ungeheuer aus dem Märchen, eine unheimliche fleischfressende Riesin in alltäglicher Gestalt.

Nicht nur jede Kreatur, egal wie schwach und gering sie äußerlich wirkt, ist besonders, lehrt das einfühlsame Freundschaftsabenteuer. Auch jeder Augenblick ist kostbar; und mag er noch so unscheinbar erscheinen. Aus ebensolchen kostbaren und dennoch zurückgenommenen Momenten setzt sich die Handlung zusammen. Nein, Hiromasa Yonebayashis vielschichtiger Film für Kinder und für Erwachsene ist nicht „der neue Miyazaki“. Es ist der erste Yonebayashi und als solcher ein Wunderwerk für sich.

Arrietty - Die wundersame Welt der Borger

Ein Puppenhaus. So sieht das kleine Heim aus, in dem die 14-jährige Arrietty (Sprecherin: Mirai Shida) mit ihrer kleinen Familie lebt. Zum ersten Mal darf sie ihren Vater Pod (Tomokazu Miura) nachts auf seinen Schleichwegen begleiten.
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