Angels' Share – Ein Schluck für die Engel (2012)

Eine Filmkritik von Patrick Wellinski

Wir sind alle keine Engel

Auf welcher ideologischen Seite Ken Loach steht, das macht er bereits in den ersten fünf Minuten seines neuen Films The Angels´ Share deutlich. Jugendliche Straftäter werden dem Haftrichter vorgeführt. Wir sehen aber nur die Profile der Jugendlichen, die Anklageschrift ertönt aus dem Off. Die Aussage ist klar: Der Mensch und das Individuum gegen die körperlose Autorität des mächtigen Staatsapparates. Aber auch: Gesicht gegen Ton. Im Kino wird stets das erstere gewinnen, denn dem empathieerregende Bild glauben wir schneller als den Manipulationen der Tonspur.

Ganz nebenbei stellt Ken Loach auch gleich das Personal seines Films vor. Unter den zu 300 Stunden Sozialarbeit verurteilten Jugendlichen aus Glasgow ist Robbie (exzellent: Paul Brennigan), der kurz nach der Verurteilung Vater wird. Doch seine Freundin macht ihm schnell klar, dass er von ihr keine zweite Chance mehr bekommt. Ihr Vater will den Tunichtgut am liebsten sofort auszahlen und nach London abschieben, dessen Söhne wiederum schlagen Robbie im Krankenhaus zusammen. Doch einfach aufhören geht nicht, denn Robbie steckt in einem mehrere Generationen anhaltenden Konflikt mit einer andere Familie. Er muss jeden Moment mit Rache rechnen.

Robbie ist natürlich nicht verloren. Die Hilfe lässt Paul Lavertys erstaunlich leichtfüßiges Skript in Form des liebenswürdig groben Sozialarbeiters Harry (John Henshaw) auftachen. Der nimmt Robbie unter seine Fittiche, hilft ihm ein wenig auf die Beine, und steckt ihn mit seiner größten Leidenschaft an: dem Whisky. Und so gleitet diese herrliche Komödie mit ihren sozialkritischen Untertönen hinüber, in einen recht skurrilen, phasenweise etwas unglaubwürdigen, aber immer unterhaltsamen und liebenswürdigen Abenteuerspaß im Whisky-Milieu in den schottischen Highlands.

Ken Loachs Sozialdramen, die sich spätestens seit Looking for Eric sanft und wohltuend zu Komödien entwickelt haben, sind schon lange nicht mehr nur auf den Anti-Thatcher-Impuls zurückzuführen aus dem dieser Arm des britischen Kinos ursprünglich entstand. Sie gewinnen ihre Daseinsberechtigung aus der Tatsache, dass ihr Geist mitten aus unser aller Alltag entspringt. Loachs Filme könnten aus der gestrigen oder morgigen Zeitung stammen. So erzeugen sie einen Grad der Identifikation und Reflexion, die kein großes Vorwissen verlangt.

Wenn Robbie in einer Art Therapiesitzung einem seiner Opfer begegnet, das er unter Drogen halb blind geschlagen hat, dann gibt es kein Erbarmen. Die Tat bleibt bestialisch, für die Mutter ist Robbie das Monster, das er für jeden auf der anderen Seite des Tisches auch wäre. Viele hätten es dabei belassen. Doch Loach lässt Robbie gleich in der nächsten Szene auf der Straße zu seiner Freundin sagen: „Wenn ich an ihrer Stelle gewesen wäre, wenn das jemand unserem Sohn angetan hätte, dann würde ich den Täter hängen sehen wollen.“ Das ist natürlich keine Entschuldigung und nur eine mäßige Einsicht, es ist vor allem eine humanistisch geprägte Inszenierungsgeste, die fair sein will. Verurteilen soll der Saat, das dürfen auch die Opfer solcher Verbrechen. Doch Kino sollte nicht verurteilen, es sollte anders sein, reflektierter, über den Dingen stehend — und The Angels´ Share ist so ein Film.

Wer jetzt noch abfällig vom Gutmenschentum spricht, der klatschte in Cannes auch als der unschuldige Mads Mikkelsen in Thomas Vinterbergs The Hunt / Jagten nach wochenlangen körperlichen Übergriffen auf seine Person auch endlich zurückschlägt. Genau darum geht geht es hier. Denn Vinterbergs Film und Ken Loachs Komödie sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Beide Regisseure, der eine gewohnt pessimistisch, der andere optimistisch, offenbaren den Wunsch nach einer anderen Art der Zwischenmenschlichkeit. Hinter seinem Humor, seiner Liebe zu seinen Figuren, eröffnet The Angels´ Share einen neuen Raum für den Diskurs über Jugendkriminalität. Ken Loach ist eben immer noch der beste Sozialarbeiter unter den Regisseuren. Wenn man die letzte Einstellung seines neuen Films richtig versteht, dann wünscht er sich dafür eher eine Flasche Whisky als eine Goldene Palme.

(Festivalkritik Cannes 2012 von Patrick Wellinski)

Angels' Share – Ein Schluck für die Engel (2012)

Auf welcher ideologischen Seite Ken Loach steht, das macht er bereits in den ersten fünf Minuten seines neuen Films „The Angels´ Share“ deutlich. Jugendliche Straftäter werden dem Haftrichter vorgeführt. Wir sehen aber nur die Profile der Jugendlichen, die Anklageschrift ertönt aus dem Off. Die Aussage ist klar: Der Mensch und das Individuum gegen die körperlose Autorität des mächtigen Staatsapparates. Aber auch: Gesicht gegen Ton. Im Kino wird stets das erstere gewinnen, denn dem empathieerregende Bild glauben wir schneller als den Manipulationen der Tonspur.

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Meinungen

Sherri · 30.04.2016

Ein richtig cooler Film, der sich stetig steigert und dann großartig wird! Was man sieht, ist schon klasse, und worauf es hinweist, noch besser. Ich mag Ken Loach ganz arg gern, und in einem Interview zum Film wurde er gefragt, ob er nicht ans Aufhören denkt (Er wird im Juni 80). Antwortet der Mann, er denke an Woody Allen, der auch nicht aufhört und ein Jahr älter ist. Er, Loach, wolle nicht zuerst kneifen. Hoffentlich denkt Allen auch so!

wignanek-hp · 29.03.2013

Ken Loach, der Altmeister des britischen Films, ist mit dieser Geschichte durchaus seiner Linie treu geblieben. Viele meinen, er sei milde geworden. Vielleicht hat er aber nur einfach keine Lust mehr, uns die Negativität dieser Welt immer wieder in endlosen Wiederholungen, die sowieso nichts nützen, um die Ohren zu hauen.
Auch dieser Film beginnt, wie bei Loach typisch, mit der harten Realität eines Outcasts, der niemals wieder eine Chance bekommt, weil er seine letzte vergeigt hat. Robbie wird uns auch nicht gerade als sanftes Lämmchen vorgeführt. Er hat einen anderen Jungen im Drogenrausch fast totgeschlagen und doch…! Erinnern wir uns an das Gleichnis vom verlorenen Sohn? Er bekommt noch eine Chance von einem, der auch alles verloren, sich aber wieder aufgerappelt hat! Er steht ihm bei, als er ganz unten ist.
Viele Rezensenten nannten den Film ein „Sozialmärchen“. Ich würde es eher „Sozialutopie“ nennen. Denn wie viel trennt eine unbarmherzige Gesellschaft wie die unsere von einer barmherzigen? Nur ein kleiner Schritt, ein Stückchen Vertrauen, ein wenig Kümmern, ein Augenblick des genau Hinschauens. Und das ist die Stärke von Loach. Genau das zeigt er uns! Wir selbst machen unsere Gesellschaft unbarmherzig, weil wir uns keine Zeit mehr nehmen, genau hinzuschauen, weil wir nur noch dem eigenen Profit nachjagen. Abers auch nur wir selbst können das Ganze umkehren. Typisch ist auch, dass er seinem Helden seine Zukunft nicht auf dem Silbertablett serviert, nein Robbie muss sie auch erkämpfen, muss zeigen, dass er das will. Dass er dabei – um an das nötige Startkapital zu kommen - einen noch größeren Gauner übers Ohr haut, macht die Geschichte eher liebenswert. Loach zeigt damit, dass er genau weiß, dass es ohne das Quentchen Glück auch nicht geht. Seine Geschichten überraschen mich immer aufs Neue. Ken Loach hat sich noch nie von Kritik beirren lassen. Möge das noch lange so bleiben.