180° - Wenn deine Welt plötzlich Kopf steht

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Zürich Crash

Wie schnell es gehen kann, dass die Welt Kopf steht, das zeigt der Schweizer Regisseur Cihan Inan gleich zu Beginn seines Filmst: Wir sehen eine Gestalt durch einen langen Gang laufen, als sich plötzlich die Kamera zu drehen beginnt, bis die Figur schließlich auf dem Kopf steht. Und genau das ist es auch, was in 180°- Wenn deine Welt plötzlich Kopf steht geschieht – von einem Moment auf den nächsten wird das Leben einiger Menschen aus Zürich buchstäblich auf dem Kopf gestellt. Das Ergebnis ist für jeden Einzelnen von ihnen verheerend – und mit der Zeit stellt sich heraus, dass all die wie zufällig eingefangenen Einzelschicksale aufs Engste miteinander verbunden sind.
An einem ganz normalen Tag in Zürich gerät von einer Minute auf die andere die Welt aus den Fugen: Ein braver Bürger (Christopher Buchholz) marschiert mit einem Gewehr bewaffnet in sein Büro und schießt blindwütig auf seine Kollegen, anschließend flüchtet er in Richtung Hamburg. Während die Polizei auf der Suche nach dem Attentäter Straßensperren errichtet, geschieht ein weiteres Unglück: Ein Banker und seine Freundin sind für einen kurzen Moment unachtsam und überfahren mit dem Wagen eine junge Schülerin und ihren türkischstämmigen Begleiter – das Mädchen stirbt, der Junge überlebt schwer verletzt. Was niemand ahnt: Auf seltsame Weise sind die beiden Ereignisse miteinander verbunden, immer wieder werden sich von nun an die Wege der Beteiligten und Betroffenen kreuzen und überlagern, gegenseitig beeinflussen und aufeinander einwirken. Und: Von einem Moment auf den anderen, durch die pure Macht des Zufalls, wird niemandes Leben mehr so sein wie noch einen Augenblick zuvor.

Short Cuts, L.A. Crash und Babel – die Faszination von kunstvoll verschlungenen Episodenfilmen auf junge Filmemacher ist nach wie vor ungebrochen. Eigentlich sollte man von höherer Stelle den Regisseuren, die sich an dieser wohl anspruchsvollsten Form des filmischen Erzählens versuchen, davon dringend abraten – zu wahrscheinlich ist ein Scheitern und zu schnell wirkt der immer gerne herbeizitierte Zufall in vielen Fällen an den Haaren herbeigezogen und überambitioniert.

Ganz frei von diesen Schwächen ist auch 180° — Wenn deine Welt plötzlich Kopf steht nicht. Was bei Meistern wie Robert Altman und anderen zufällig aussieht, ist im Falle vieler europäischer Filme ähnlichen Musters (mit Ausnahme von Michael Hanekes grandiosem Werk 71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls) eine so merkwürdige Häufung an Koinzidenzen, dass man hier weniger den Hauch des Schicksals als vielmehr den Willen des Drehbuchautors nach der ganz großen Kunst zu spüren vermag. Möglicherweise ist es ja der schieren Anzahl an Handlungsfäden und Microstories geschuldet, dass manche Figuren kaum mehr als Stichwortgeber sind bzw. dazu benutzt werden, um die Verbindungen zwischen den Protagonisten herzustellen und zu etablieren. Gerade im Fall des von Sabine Timoteo und Leonardo Nigro verkörperten Paares wird dies auf drastische Art deutlich.

Zudem sind einige der Personen (bezeichnenderweise vor allem die männlichen Parts und dort die beiden Vaterfiguren) haarscharf an der Grenze zum Klischee (und manchmal auch jenseits davon) gezeichnet, dass es ihnen in erheblichem Maße an der nötigen Glaubwürdigkeit fehlt. Ebenfalls auffällig ist die überaus präsente, in manchen Passagen auch nahezu aufdringliche Musik, die kaum einen wirklich stillen Moment zulässt, sondern die reichlich vorhandenen Emotionen zu forcieren versucht.

Am Ende scheint zumindest ein Faden dem Regisseur und Drehbuchschreiber aber aus der Hand geglitten zu sein: Während man zu Beginn des Films hinter der Tat des Amokläufers aufgrund eines Telefonates eher private Gründe vermutete, wird seine Tat schließlich durch Mobbing begründet. Sicherlich mag das eine mit dem anderen zusammenhängen, dass aber der Attentäter am Schluss seiner Reise in Hamburg landet, ohne auch nur einen Versuch zu unternehmen, sein von ihm getrennt lebendes Kind noch einmal zu sehen, das sich in der Stadt befindet, ist dann leider nicht schlüssig.

Trotz dieser Schwächen, Fehler und Ungereimtheiten ist Cihan Inan mit 180° — Wenn deine Welt plötzlich Kopf steht ein unterm Strich sehenswerter Film gelungen, den man vielleicht besser als erste Talentprobe begreifen sollte, statt ihn mit Werken wie Short Cuts oder L.A. Crash zu vergleichen. Vielleicht täten junge Filmemacher gut daran, sich für ihr Debüt nicht unbedingt so ambitionierte und überaus komplexe Stoffe von großen Meistern des Faches auszusuchen. Der Vergleich mit Robert Altman, Paul Haggis und Alejandro González Iñárritu wird nur äußerst selten zugunsten des Newcomers ausfallen und verstellt fast immer den vorurteilsfreien Blick auf die Qualitäten des Debüts. Und die liegen im Falle von Cihan Inans Film unzweifelhaft in einem beinahe durchgehend ausgezeichneten Ensemble, das gegen die dramaturgischen Schnitzer und Ungereimtheiten des Drehbuchs einen überwiegend positiven Kontrapunkt setzt.

180° - Wenn deine Welt plötzlich Kopf steht

Wie schnell es gehen kann, dass die Welt Kopf steht, das zeigt der Schweizer Regisseur Cihan Inan gleich zu Beginn seines Filmst: Wir sehen eine Gestalt durch einen langen Gang laufen, als sich plötzlich die Kamera zu drehen beginnt, bis die Figur schließlich auf dem Kopf steht.
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