El Bella Vista

Eine Filmkritik von Sophie Charlotte Rieger

Kategorie kompliziert

Kategorien machen das Leben einfacher. Wenn wir über Filme sprechen sowieso, denn da will jeder sofort wissen, ob es sich denn nun um eine Komödie, einen Thriller oder vielleicht doch um einen Dokumentarfilm handelt. Aber auch „männlich“ und „weiblich“ sind solche Schubladen, mit denen wir es uns oft zu einfach machen. Der Terminus „queer“ bedeutet, ganz verknappt gesagt, auf diese Schubladen zu verzichten. El Bella Vista ist queer und zwar auf mehreren Ebenen.
Zunächst einmal lässt sich der Film augenscheinlich in kein Genre einordnen. Für einen Dokumentarfilm spricht die große Authentizität der Figuren und des Schauplatzes. Auch das Voice-Over einzelner Protagonisten und einige wenige Interviewsituationen deuten daraufhin, dass es sich hier nicht um Fiktion, sondern das „wahre Leben“ handelt. Dann aber verwirrt die Kameraführung, die so gar nicht zum dokumentarischen Setting passen will. Die Schnitte und die Arbeit mit Schuss und Gegenschuss deuten doch zu sehr auf eine Inszenierung hin. Bei dem Versuch, El Bella Vista einer eindeutigen Kategorie zuzuordnen, muss der Zuschauer scheitern. Er hat nur zwei Möglichkeiten: Seine Irritation als Missfallen zu begreifen oder sich vom Kategorisierungszwang zu befreien und den Film einfach auf sich wirken zu lassen.

Der vergebliche Versuch, Dinge oder Personen in vorgefertigte Kategorien einzuordnen, spiegelt sich auch auf inhaltlicher Ebene wider, denn in El Bella Vista geht es unter anderem um Menschen, die sich der rigiden Einteilung in männlich und weiblich entziehen. Als Transsexuellen bleibt den Protagonistinnen in der kleinen Stadt in Uruguay, in der El Bella Vista angesiedelt ist, nichts anderes übrig, als sich zu prostituieren. Ausgerechnet der ehemalige Fußballclub, ein Symbol der Männlichkeit, hat sich in ein Bordell verwandelt. Freilich sehen das die Dorfbewohner, insbesondere die ehemaligen Vereinsmitglieder, gar nicht gerne und versuchen, gerichtlich gegen das Etablissement vorzugehen. Mit Erfolg. Doch wenn auch dieser queere Raum geschlossen wird, welcher Ausweg bleibt dann noch den Huren des „Bella Vista“?

Darauf gibt Regisseurin Alicia Cano Menoni in ihrem Debütfilm keine Antwort. Ebenso wenig hilft sie ihrem Zuschauer bei der generischen Einordnung des Werks. El Bella Vista bleibt bis zur letzten Minute ambivalent und erhält schließlich sogar eine selbstreflexive Note, wenn die Figuren auf der Leinwand in einer Kneipe die entscheidende Gerichtsverhandlung nachstellen, die das Schicksal des „Bella Vista“ besiegelt. Hiermit gibt die Regisseurin auch einen Hinweis auf die Entstehungsgeschichte ihres Films. Die Figuren sind echt, die Geschichte ist echt, doch die Situationen sind gestellt. Die Menschen auf der Leinwand spielen und erzählen ihre eigene Geschichte. Dabei kommen alle gleichberechtigt zu Wort, ohne durch den Film eine Verurteilung zu erfahren. Der Vorsitzende des Fußballclubs berichtet von seinem verstorbenen Sohn. Wir dürfen mitfühlen und doch gleichzeitig seinen Äußerungen die starke Betonung und Aufwertung von Männlichkeit entnehmen. Und ebenso rührt uns die Geschichte einer transsexuellen Prostituierten und ihrer Liebe zu einem jungen Mann, die an der gesellschaftlichen Ächtung ihrer Person zerbricht.

Indem sie all ihren Protagonisten dasselbe Maß an Respekt entgegen bringt, gelingt es Alicia Cano Menoni, ihre Geschichte ohne moralischen Zeigefinger zu erzählen. Doch so richtig schlau werden wir aus ihrem Dokumentarfilm nicht. Wir sind viel zu sehr damit beschäftigt, die Ambivalenz des Konzepts zu durchdringen, den dokumentarischen vom fiktiven Anteil zu trennen, in dem Irrglauben, dies könnte uns helfen, die Geschichte auf der Leinwand zu verstehen. Doch genau das Gegenteil ist der Fall! So wie die Dorfbewohner sich weigern, die Transsexuellen als solche zu respektieren, ohne sie als „krank“ oder „verrückt“ einzuordnen, sind wir nicht in der Lage, von unseren Dokumentar- und Spielfilmkategorien abzurücken. Vielleicht sind wir einfach noch nicht reif für El Bella Vista.

El Bella Vista

Kategorien machen das Leben einfacher. Wenn wir über Filme sprechen sowieso, denn da will jeder sofort wissen, ob es sich denn nun um eine Komödie, einen Thriller oder vielleicht doch um einen Dokumentarfilm handelt. Aber auch „männlich“ und „weiblich“ sind solche Schubladen, mit denen wir es uns oft zu einfach machen.
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