Ein Geheimnis

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Mysterien einer Familie

Frankreich in den Fünfzigern: Dass der siebenjährige François (Valentin Vigourt) nicht so recht zu seinen Eltern passt, das sieht man auf den ersten Blick. Neben seiner Mutter, der ehemaligen Schwimmerin Tania (Cécile de France) macht er jedenfalls im Freibad eine schlechte Figur, wirkt gehemmt und wasserscheu, was durch die Eleganz und Anmut der gebräunten Sportlerin noch verstärkt wird. Francois’ eher kränkliche Natur ist vor allem für seinen ebenfalls athletischen Vater Maxime (Patrick Bruel) ein Quell des Ärgers. In seiner Not flüchtet sich das sensible Einzelkind in seine Fantasie und imaginiert einen großen Bruder, der all das ist, was er selbst nicht sein kann – voller Elan und Kraft und zudem frei von jeglicher Angst. Was François nicht ahnt und erst Jahre später durch Louise (Julie Depardieu), der jüdischen Bekannten seiner Eltern erfahren wird: Auch seine Eltern sind Juden. Und es gab tatsächlich einmal einen großen Bruder. Denn sein Vater war vor seiner Geburt schon einmal verheiratet, mit Hannah (Ludivine Sagnier), mit der er gemeinsam ein Kind hatte. Doch dann kam die Besetzung Frankreichs durch die deutschen Truppen und damit für Maxime ein Leben auf der Flucht, in dessen Verlauf er schließlich Tania begegnet. Nach und nach erfährt François schließlich die ganze Tragödie seiner Eltern und muss sich unbequemen Wahrheiten stellen, die seine Eltern vor ihm zu verbergen versuchten. Denn ihr scheinbar ungetrübtes Glück ist auf unerträglichem Leid, Schuldgefühlen und einer außerehelichen Affäre aufgebaut, das wie ein Damoklesschwert über der Familie schwebt.
Philippe Grimberts autobiographischer Roman Ein Geheimnis / Un secret, der auf deutsch im Suhrkamp Verlag erschienen ist, sorgte nach seinem Erscheinen in Frankreich für Furore und erhielt unter anderem den renommierten Prix Goncourt des Lycéens 2004.

Das Besondere an Claude Millers außerordentlicher Verfilmung dieses sehr bemerkens- und lesenswerten Buchs ist sein Umgang mit der Zeit und wie er die verschiedenen Zeitebenen inszeniert und einander durchdringen lässt. Denn hierin liegt auch die Herausforderung des Romans von Philippe Grimbert, der in seinem Buch die Gegenwart in der Vergangenheitsform und die Vergangenheit im Präsens beschreibt. Miller findet für diesen erzählerischen Kunstgriff eine ebenso verblüffende wie einfache Lösung: Während die Sequenzen aus der Vergangenheit in Farbe gedreht sind, kommt die Gegenwart der Geschichte in historisierendem Schwarzweiß daher. Keine schlechte Idee, zumal man bemerkt, wie irritierend solche neuen Kontextualisierungen von Sehgewohnheiten eigentlich sind. Ebenso sehenswert ist es, wie mühelos Miller die Übergänge zwischen den verschiedenen Zeitebenen hinbekommt, mit welch kindlicher Phantasie er wechselt zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem, zwischen Erinnerung, Traum und Realität.

Und zugleich vergegenwärtigt Millers Kniff beinahe ebenso beeindruckend wie Grimberts Roman, dass wir der Vergangenheit nicht entkommen können, dass die Geschichte, unsere Geschichte stets an unserer Seite und in unserer Gegenwart vorhanden ist – hierin spürt man Grimberts Ausbildung als Psychoanalytiker ebenso wie seine eigene Verstrickung in diese Familiengeschichte. Die unauflösliche Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart auf solch elegante und unaufgeregte Weise ins Gedächtnis gerufen zu bekommen, macht den großen Reiz dieses keineswegs perfekten, aber sehr feinsinnigen und klugen Filmes aus, der zudem durch die wunderbare Filmmusik von Zbigniew Preisner auch ein Fest für die Ohren ist.

Claude Miller dürfte den meisten deutschsprachigen Kinobesuchern nicht auf Anhieb vertraut sein. Doch in Frankreich gilt der 1942 geborene Regisseur als einer der bekanntesten Filmemacher der so genannten „zweiten Generation“, die sich im Gefolge der „Nouvelle Vague“ auf den Marsch durch die (Film-)Institutionen machten. Miller arbeitete als Regieassistent an der Seite von großen Meistern der Filmkunst wie Marcel Carné, Michel Deville, Jean-Luc Godard, Robert Bresson und Jacques Demy und war zwischen 1968 und 1975 Produktionsleiter bei Francois Truffaut. Zu seinen bekanntesten Filmen hierzulande dürften Das Verhör / Garde à vue mit Romy Schneider (1981) und Das Auge / Mortelle randonnée mit Isabelle Adjani (1983) gehören. Für seinen Film Die Klassenfahrt / La classe de neige erhielt Miller 1998 den Großen Preis der Jury bei den Filmfestspielen von Cannes. Seit 2007 ist Miller Präsident der Filmhochschule La Fémis in Paris.

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Frankreich in den Fünfzigern: Dass der siebenjährige François (Valentin Vigourt) nicht so recht zu seinen Eltern passt, das sieht man auf den ersten Blick.
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