Die Wohnung

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

Das deutsche Geheimnis der jüdischen Großeltern

Der israelische Filmemacher und Hochschuldozent Arnon Goldfinger wusste zwar, dass seine 1935 aus Deutschland emigrierten Großeltern die alte Heimat zeitlebens im Herzen trugen. Wenn er als Kind ihre Wohnung in Tel Aviv mit den vielen Büchern deutscher Schriftsteller betrat, fühlte er sich nach Berlin versetzt. Aber erst nach dem Tod der 98-jährigen Großmutter, die nie hebräisch gelernt hatte, gibt die verwaiste Wohnung ihr größtes Geheimnis preis: In den Fotoalben, Briefen und alten Zeitungen findet der Enkel von Kurt und Gerda Tuchler ihre Freundschaft mit einem SS-Unterscharführer und seiner Frau dokumentiert. Fünf Jahre arbeitet Goldfinger am Film, der seine persönliche Expedition in die deutsche Vergangenheit und in diese unglaubliche Familiengeschichte zugleich wird. Die Wohnung, zur Eröffnung des Münchner Dokumentarfilmfestivals 2012 gezeigt, wurde bereits im Januar mit dem Bayerischen Filmpreis für die beste Dokumentation ausgezeichnet.
Nach dem Tod der Großmutter findet sich die große Familie zur Wohnungsauflösung ein, inspiziert staunend und belustigt alte Pelzkrägen, wirft das weitgehend unverkäufliche Inventar in Müllsäcken aus dem Fenster. Aber als Arnon Goldfinger im Schrank eine Ausgabe der Nazi-Zeitung Der Angriff findet, ahnt er, wie wenig er über seine Großeltern weiß. Und nicht nur ihm geht es so, wie seine Befragung der Familienmitglieder ergibt, die er mit ironischem Off-Kommentar oder auch mal einem witzig platzierten Ruf der Kuckucksuhr orchestriert. Wie ein Detektiv kramt der Enkel nach den Puzzleteilen, die zutage fördern, dass Kurt Tuchler, deutscher Patriot, Verkehrsrichter und Zionist, im Jahr 1933 mit dem SS-Mann und späteren Leiter des Judenreferats, Leopold von Mildenstein, und den beiden Ehefrauen nach Palästina gefahren war. Die deutschen Zeitungen berichteten über diese Reise. Sowohl die Zionisten, als auch die Nazis wollten damals die Emigration der deutschen Juden nach Palästina fördern.

Die beiden Ehepaare wurden Freunde, die in Berlin häufig gemeinsam in Theater und Restaurants gingen, bis die Tuchlers emigrierten. Man blieb auch danach noch, bis zum Ausbruch des Krieges, in brieflichem Kontakt. Gerda Tuchler konnte ihre Mutter nicht dazu bewegen, Berlin zu verlassen. Sie wurde schließlich im Konzentrationslager Theresienstadt umgebracht. Davon hatte die Großmutter den Kindern und Enkeln in Tel Aviv nie etwas erzählt. Goldfinger erfährt es erst von der in Wuppertal lebenden Tochter von Mildensteins. Zu seiner großen Überraschung kannte sie seine Großeltern persönlich: Sie waren nämlich nach dem Krieg regelmäßig nach Deutschland gefahren und hatten ihre alten Freunde besucht.

Am Anfang ist diese wie ein Spielfilm choreografierte Spurensuche durch Fotos und andere stumme Schätze der Wohnung noch unbeschwert, von heiterer Musik und humorvollen Überlegungen des Regisseurs im Off begleitet, die von Axel Milberg gesprochen werden. Aber je tiefer er in die Geheimnisse der Großeltern dringt, desto nachdenklicher, betroffener wird die Stimmung des Films. Goldfinger reist mit seiner Mutter nach Deutschland. Auf den Stationen dieser Reise ist er selbst oft Protagonist, lässt seine Gespräche mit Mutter und Gastgebern filmen. Dabei erscheint er als Lernender, aufgewühlt, berührt, manchmal ratlos. Er hadert mit der Indifferenz der Mutter ebenso wie mit seinem Unvermögen, die Großeltern restlos zu verstehen. In seinem Schmerz ist er ihnen wohl näher als jemals zuvor, je mehr es deutlich wird, dass sie offenbar selbst nicht erwarteten, von anderen verstanden zu werden. Sie gaben die Reste ihres früheren Glücks nicht auf, auch um den Preis, Unvereinbares in sich zu tragen.

Am Friedhof in Berlin sieht man Goldfinger und seine Mutter im strömenden Regen nach verdeckten Grabsteinen suchen. Sie schieben mit den Händen Blätter und Gras beiseite, aber wo das Grab des Urgroßvaters stehen müsste, finden sie nichts mehr. Die Szene ist ein Höhepunkt an Authentizität in dieser spannenden, sehr persönlichen und gerade dadurch so berührenden Spurensuche. Sie zeigt nicht nur, dass Geschichte zuallererst einzelne Menschen betrifft, sondern auch, dass sich gerade deswegen Barrieren des Verstehens zwischen den Generationen auftun.

Die Wohnung

Der israelische Filmemacher und Hochschuldozent Arnon Goldfinger wusste zwar, dass seine 1935 aus Deutschland emigrierten Großeltern die alte Heimat zeitlebens im Herzen trugen. Wenn er als Kind ihre Wohnung in Tel Aviv mit den vielen Büchern deutscher Schriftsteller betrat, fühlte er sich nach Berlin versetzt.
  • Trailer
  • Bilder

Meinungen

Cornelia D. · 03.07.2012

Mich hat der Film sehr berührt, und ich würde mich gern an einem sponsoring eines "Stolpersteins" in Berlin für Frau Susanne Lehmann beteiligen. Hat jemand eine Idee, wie ich den Regisseur oder Gleichgesinnte kontaktieren könnte?

THE FLAT · 22.06.2012

Dear Marlies Mueller, the cemetery is the Weissensee Jewish Cemetery (Judischer Friedhof)in
Berlin.

Marlies Müller · 18.06.2012

Mich hat der Film sehr interessiert und berührt.Mein Sitznachbar im Kino fragte mich nach Ende des Films,ob ich wüsste, um welchen Friedhof es sich zum Schluss gehandelt hat. Auch mich würde das sehr interessieren .
Wie kann ich das erfahren
N?

Maya Silberbach · 23.05.2012

Ich habe den Film in der Kinothek in Tel-Aviv, Israel - wo ich seit 1935 lebe -(bin jetzt 87 J.) gesehen. Er hat mich inhaltlich schwer erschüttert. Dazu kommt noch daß Kurt und Gerda Tuchler zu dem engen Bekanntenkreis meiner Eltern sowie Onkel und Tante s.A. gehörten, und sehr angesehen waren. Von ihrem Geheimleben haben wir nie etwas erfahren. Ich empfehle jedem diesen wirklich ausgezeichneten Film unbedingt zu sehen. Maya Silberbach.