Die Unbekannte

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Die Ware Mensch

Denkt man an den italienischen Regisseur Giuseppe Tornatore, dann ist es vor allem ein Film, der dieses Erinnerungsbild geprägt hat: Breits sein zweiter Film Cinema Paradiso / Nuovo Cinema Paradiso (1989) machte den 1956 auf Sizilien geborenen Filmemacher mit einem Schlag weltberühmt. Tornatore erhielt den Oscar für den besten fremdsprachigen Film und gilt seitdem als einer der talentiertesten Regisseure Europas. Doch der schnelle Ruhm im Alter von 33 Jahren weckte auch Erwartungen, die Tornatore nicht erfüllen konnte. Seine späteren Filme wie Allen geht’s gut / Stanno tutti bene (1990), Der Mann, der die Sterne macht / L’Uomo delle stelle (1995) und Die Legende vom Ozeanpianisten / Novecento – La legenda del pianista sull’oceano (1998) sowie sein letzter Film Der Zauber von Malèna / Malèna (2000) waren zwar in seiner Heimat Kinoerfolge, doch an das große internationale Echo von Cinema Paradiso / Nuovo Cinema Paradiso konnte Tornatore nicht mehr anknüpfen. Mit seinem neuen Film Die Unbekannte / La Sconosciuta wagt Tornatore nach einer langen Pause wieder den Schritt auf die Leinwand. Und abermals gelingt ihm damit – zumindest in Italien – ein großer Erfolg: Im vergangenen Jahr gehörte der Film bei der Verleihung der italienischen Filmpreise zu den Hauptgewinnern und erhielt fünf der begehrten Trophäen sowie den Publikumspreis als „bester Film“ beim Europäischen Filmpreis 2007. Markiert der Film also die Rückkehr eines großen italienischen Filmemachers auf das internationale Parkett? Die Antwort ist ein Ja – mit einigen kleinen Abstrichen.
Zur Handlung des Films: Eine junge Frau aus der Ukraine namens Irina (Xenia Rappoport) kommt in einer norditalienischen Stadt (im Film wird diese Stadt nicht genauer spezifiziert, gedreht wurde in Triest) an, mietet eine Wohnung, die eigentlich viel zu teuer ist und bemüht sich im gegenüberliegenden Haus um Arbeit als Haushälterin. Schnell merkt man, dass mit Irina etwas nicht stimmt, allzu auffällig ist ihr Interesse an der Familie Adacher (Claudia Geriini und Pierfrancesco Favino) und deren kleiner Tochter Tea (Clara Dossena), die in dem herrschaftlich wirkenden Mehrfamilienhaus im typischen Stil Triests leben. Außerdem ist da noch die riesige Summe Bargeld, die die Ukrainerin mit sich führt und die sie in ihrer Wohnung versteckt. Zunächst als Putzfrau im Haus der Adachers eingestellt, freundet sich Irina mit deren Haushälterin Gina (Piera degli Espositi) an, besorgt sich Nachschlüssel für die Wohnung der Familie und räumt schließlich die herzensgute Gina aus dem Weg, indem sie ihre Freundin die Treppen hinunter stößt und so deren Position einnehmen kann. Ist diese beinahe ätherisch wirkende Frau mit den gelockten Haaren eine berechnende Killerin, eine abgefeimte Verbrecherin? Der Verdacht liegt nahe, doch glauben mag man das kaum.

Nach anfänglichen Schwierigkeiten gelingt es Irina, das Herz der kleinen Tea zu gewinnen und sich bei der Familie unentbehrlich zu machen. Doch das scheinbare Glück ist nur von kurzer Dauer, denn auf Irinas Vergangenheit lastet ein schwerer Schatten, und der holt sie in Gestalt des finsteren Muffa (kaum wieder zu erkennen in dieser Rolle ist Michele Placido, der als Commissario Cattani in der Fernsehserie Allein gegen die Mafia bekannt wurde) unweigerlich ein. Doch Irina ist zu allem entschlossen, um ihre Pläne bis zum Ende zu verfolgen; sie setzt damit eine Spirale von Gewalt und Lügen in Gang, in der sie sich selbst verheddert.

Wer ist diese eigentlich sehr sympathische Frau mit den vielen Locken, deren Gesicht nichts von ihrer schrecklichen Vorgeschichte ahnen lässt, deren Martyrium als Zwangsprostituierte in diversen Rückblendungen immer wieder angedeutet wird? Und was will sie von der Familie Adacher und der kleinen Tea? Das sind die Fragen, die diesen pessimistischen, zu keiner Sekunde langweiligen Thriller vorantreiben. Schnell ahnt man aufgrund diverser kleiner Hinweise, was das Kind und die mysteriöse junge Frau verbinden könnte, was der Antrieb für das durchtriebene und skrupellose Handeln Irinas ist. Dass sich ganz zum Schluss alles als großer Trugschluss erweisen wird, gehört mit Sicherheit zu den großen Pluspunkten von Die Unbekannte / La Sconosciuta, ebenso wie die exzellente Kameraarbeit und gelungene Montage, die viel zu der stimmigen Atmosphäre beitragen.

Immer wieder zitiert Tornatore andere Meister des Kinos, so etwa bei dem Schwindel erregenden Blick in ein Treppenhaus (mit schönen Grüßen von Alfred Hitchcock und Fritz Lang). Auch gibt der Regisseur dann und wann Kostproben einer besonders für Hitchcock typischen ökonomischen Art des Erzählens, wenn er durch sorgfältig ausgewählte Bildausschnitte zwei parallele Handlungen gleichzeitig zeigt. Ein weiteres Stilmittel sind die zahlreichen, zuerst nur angedeuteten, dann immer ausführlicheren Rückblenden, die mal im Stile eines David Lynch gehalten sind und dann wieder in einer seltsam flirrenden, beinahe kitschig wirkenden Erotik daherkommen, sich aber dank raffinierter Übergänge beinahe nahtlos in den eleganten Erzählfluss des Films einfügen und immer wieder falsche Fährten legen. In den wenigen Gewaltszenen fühlt man sich an die Meister des italienischen „giallo“ wie Dario Argento und Mario Bava erinnert.

Dabei wechselt Tornatore mehrmals den Fokus seines Films, verschiebt den Blickwinkel vom Thriller zum Sozialdrama über die Ausgebeuteten der Gesellschaft, seien sie nun Prostituierte oder Hausbedienstete, um anschließend das Porträt einer besessenen jungen Frau zu zeichnen, die sich an den letzten Strohhalm klammert, der ihr geblieben ist. Manchem Kritiker und einigen Zuschauern wird das möglicherweise zuviel des Guten oder Gutgemeinten sein, ebenso wie die prägnante Musik Ennio Morricones, die die Emotionalität des Films wirkungsvoll unterstreicht und verstärkt.

Natürlich ist Irinas Schicksal dramaturgisch zugespitzt und verdichtet und manches Mal, insbesondere am Schluss, hätte man sich etwas mehr Zurückhaltung seitens des Drehbuchs gewünscht. Trotzdem: Die Unbekannte / La Sconosciuta ist ein durchaus sehenswerter Thriller mit konkreten gesellschaftlichen Bezügen, der eine ganz neue und ungewohnt düstere Seite des Filmemachers Giuseppe Tornatore offenbart.

Die Unbekannte

Denkt man an den italienischen Regisseur Giuseppe Tornatore, dann ist es vor allem ein Film, der dieses Erinnerungsbild geprägt hat: Breits sein zweiter Film Cinema Paradiso / Nuovo Cinema Paradiso (1989) machte den 1956 auf Sizilien geborenen Filmemacher mit einem Schlag weltberühmt.
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Meinungen

hufurrhufur · 27.07.2008

Der Film selbst ist im Grunde die Kinoversion des heutigen italienischen Dramolett-TV's. Große Schicksale und Verzweiflung, auch Hoffnungslosigkeit, verpackt in moderner professioneller Kameraführung und Bildkomposition. Bis zum Schluß ist beinahe jede Szene mit einer Spannung unterlegt, die den Zuschauer gefangen halten will und auch kann, obwohl er bzw. sie vielleicht bald enttäuscht ist, weil es der Unbekannten offensichtlich um das Kind geht, und das ist nun ja wirklich nichts neues.
Neu sind die zwei Wendungen, die sich erst gegen Ende offenbaren, und deren erste mich schockiert hat (wie man Menschen mißbrauchen kann, um Geld zu verdienen, eine ganz ungeheuerliche Vorstellung), und deren zweite mich enttäuscht hat, obwohl sie durchaus Sinn macht - mehr sei hier nicht verraten.
Die beiden Vergangenheiten Irinas werden unterschiedlich gewichtet dargestellt, die "normale" ist kaum mehr als ein (auch nicht so schöner) Traum, diejenige als Sex- bzw. Schlimmeres - Sklave ist das, was sie zu dem gemacht hat, was wir nun sehen.
Die Hauptfigur von Ksenia Rappoport ist natürlich sehr eindrucksvoll in der Darstellung ihrer Zerbrochenheit, die sie auch auch gerne mal eiskalt abstreift, wenn es ihr von Nutzen ist. Im Nachhinein, wenn man weiß, was sie erlebt hat, kann man ihr aber so einiges nachfühlen.
Völlig unerkennbar ist Michele Placido, der einstmals so schöne Kommissario (Catani, wenn ich nicht irre) von Dienst, der den widerlichen Schweinehund aus der Ukraine recht ordentlich rüberbringt. Ach ja, und das kleine Mädchen, das des Regisseurs gute Hand bei der filmischen Kinderführung eindrucksvoll nachweist, ist wirklich eine Augenweide.
Das stellenweise Übermaß an Spannung wird auch von den dauerpräsenten Morricone-Tremoli unterstützt, von denen ich mir perönlich ein paar weniger, dafür etwas mehr Stille, gewünscht hätte.
Insgesamt eine zwar schöne, aber da und dort durchwachsene Angelegenheit, die angesichts des Themas etwas mehr Melancholie und ein paar Klischees (vor allem in der Handlung) weniger vertragen hätte; dennoch sehenswert.
Ich fürchte, es wird 2010 ein US-Remake geben, hoffentlich nicht mit N. Kidman.

· 10.07.2008

Demnächst kommt endlich einmal wieder ein Tornatore-Film "La scconosciuta" bei uns im Kino, natürlich in einem Szenekino. Ich werde ihn ganz bestimmt ansehen, obwohl die Kritiken ziemlich mies ausfallen. Warum seine Erfolge in Italien? Von den veramerikanisierten Deutschen kann man wohl nichts anderes erwarten.

Gast am 22.06.2008 · 22.06.2008

Einfach sehenswert!!!

· 07.06.2008

Einfach großartig!!!!Toll!!!

· 24.05.2008

Mag ja sein, dass der Film handwerklich gut gemacht und mit netten Zitaten geschmückt ist - der teilweise unerträgliche Kitsch,die beinahe lächerliche symbolische Aufladung einzelner Szenen und die doch sehr konstruiert wirkende Story mit ihren schwerverdaulichen Wendungen bereiten wenig Freude und stören den Gesamteindruck nachhaltig.