Die süße Gier - Il Capitale Umano (2013)

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Der Wert des Lebens

Was ist ein Menschenleben wert? Die Versicherungswirtschaft weiß auf diese schwierige Frage eine einfache Antwort. Sie hat eine Formel dafür entwickelt, um im Schadens- sprich: Todesfall auf Heller und Pfennig zu berechnen, wie viel finanzielle Substitution denn nun gezahlt werden muss. Den auf diese Weise ermittelten Wert bezeichnet man als „Humankapital“.

Die süße Gier — Il Capitale Umano heißt auch der neue Film von Paolo Virzì, der bei der Vergabe der italienischen Filmpreise neben Paolo Sorrentinos La grande bellezza — Die große Schönheit der Hauptgewinner war. In drei Kapiteln (plus Prolog und Epilog) und drei Perspektiven erzählt er von einem folgenschweren Unfall, einer Fahrerflucht, einem Todesfall und von den Mechaniken, die dieses Ereignis auslöst. Dabei entwickelt sich die Story nach und nach und erst durch die Überlagerung und Verschränkung der verschiedenen Erzählebenen und -perspektiven füllen sich nach und nach die Leerstellen, die die jeweils vorausgehende Sichtweise offen gelassen hat. Aus diesem Mosaik entsteht ein bezeichnendes Porträt eines Landes in der Krise, von Menschen, die getrieben sind von Existenzangst und dem Wunsch nach gesellschaftlichem und ökonomischem Aufstieg, von Gier, Hinterhältigkeit, Betrug, Verrat und (ganz am Rande) von der Liebe, die innerhalb dieses Strudels der menschlichen Schwächen allenfalls einen kleinen Hoffnungsschimmer am Horizont darstellt.

Im Mittelpunkt des Filmes stehen drei Parteien: Da ist einerseits der leicht trottelige und nicht sehr sympathische Immobilienmakler Dino Ossola (Fabrizio Bentivoglio), der seine Chance gekommen sieht, als er die Familie des Freundes seiner Tochter Serena (Matilde Gioli) kennenlernt. Denn Giovanni Bernaschi (Fabrizio Gifuni) hantiert als Manager eines Hedgefonds mit Milliarden und man erzählt sich Wunderdinge über die sagenhaften Renditen, die das neueste Produkt verspricht. Und von diesem Kuchen will Dino seinen Anteil abhaben. Also nimmt er bei der Bank einen Kredit auf, um zu investieren und richtig groß abzusahnen. Schließlich erwartet seine zweite Frau Roberta (Valeria Golino) ein Baby. Natürlich erfüllen sich die optimistischen Prognosen nicht und fortan kämpft Dino ums Überleben — und dazu ist er zu jedem Preis bereit.

Währenddessen muss sich die Familie Bernaschi neben dem drohenden Bankrott noch mit einem weiteren Problem herumschlagen. Offensichtlich hat ihr Sohn Massimiliano (Guglielmo Pinelli) auf dem Heimweg von einer Feier im Suff einen Radfahrer angefahren und anschließend Fahrerflucht begangen — und ausgerechnet Serena Ossola ist die einzige Zeugin, deren Aussage über Entlastung oder Gefängnis für den jungen Mann entscheidet.

Was allerdings niemand weiß: Die Beziehung zwischen Serena und Massimiliano ist vor kurzem in die Brüche gegangen. Weil niemand die ganze Wahrheit weiß und auch der Zuschauer erst nach und nach das ganze Ausmaß der Verwicklungen erfährt, entspinnt sich nun ein Kampf, bei dem jeder nach seiner Fasson um das kämpft, was ihm am wichtigsten ist: Geld, Prestige, der gute Ruf, die Familie, die Unschuld und die Liebe — das alles steht auf dem Spiel. Und es ist ein Spiel, bei dem es keine Gewinner gibt, sondern ausschließlich Verlierer. Den höchsten Preis aber zahlt das Unfallopfer — er verliert am Ende sein Leben. Aber wie gesagt: Das kann man ja berechnen und bis in den Cent-Bereich beziffern.

Die süße Gier — Il Capitale Umano entfaltet seine Wirkmächtigkeit erst mit der Zeit — und ein wenig leidet der Film am Ende auch darunter, dass kaum ein Geheimnis mehr bleibt, dass alles auserwählt wird, als vertraue man den Fähigkeiten des Zuschauers nicht so ganz, das komplizierte Geflecht der Gefühle und Abhängigkeiten zu entwirren. Dennoch hat Paolo Virzì in seinem Film ein beeindruckendes gesellschaftliches Panorama entworfen, in dessen Komplexität sich das ganze Drama eines Landes am Rande des Absturzes widerspiegelt. Ein Thriller, der auf leisen Sohlen daherkommt, dessen Wirkung aber noch lange nach dem Ende des Films anhält. Trotz kleinerer Fehler und manchmal etwas seltsam anmutender Figurenzeichnung ein Glücksfall für das Kino.
 

Die süße Gier - Il Capitale Umano (2013)

Was ist ein Menschenleben wert? Die Versicherungswirtschaft weiß auf diese schwierige Frage eine einfache Antwort. Sie hat eine Formel dafür entwickelt, um im Schadens- sprich: Todesfall auf Heller und Pfennig zu berechnen, wie viel finanzielle Substitution denn nun gezahlt werden muss. Den auf diese Weise ermittelten Wert bezeichnet man als „Humankapital“.

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Meinungen

Hartmut T. · 23.01.2015

Was ist ein Menschenleben wert? Die Frage wird dem Film nicht ganz gerecht, weil ein kurzes Wörtchen fehlt: Was ist mir ein Menschenleben wert? Dieses "mir" wird aus drei Hauptperspektiven beleuchtet, wobei auch die Nebendarsteller hin und wieder in Bezug auf diese Frage ausgeleuchtet werden, die der Zuschauer wohl am Ende auch an sich selbst richtet.

Margot Stommel · 20.01.2015

Der Film bringt eine überzeugende Darstellung der agierenden Personen und ermöglicht ein distanziertes Einfühlen. Besonders interessant ist die Wiederholung einzelner Szenen mit jeweiligem Blick auf die einzelnen Rollen. Darüber hinaus wird von Anfang an eine Spannung erzeugt, die sich kontinuierlich steigert. Das Anliegen "Die Versicherungswirtschaft und das Humandkapital" gerät filmisch in den Hintergrund, wird aber umso mehr bei der Reflexion der Rezipienten Beachtung finden. Sehr empfehlenswert!