Die Mitte der Welt (2016)

Eine Filmkritik von Sonja Hartl

Aufbruch in ein neues Leben

Das Leben könnte so einfach sein. Aber das gilt nicht für den 17-jährigen Phil (Louis Hofmann, Unter dem Sand). Er lebt mit seiner Zwillingsschwester Dianne (Ada Philine Stappenbeck) und alleinerziehenden Mutter Glass (Sabine Timoteo) in einem kleinen Dorf in einem alten Haus namens Visible – und allein damit sind sie schon anders als alle anderen dort. Hinzu kommt, dass Phil schwul ist, Dianne als sonderbar gilt und Glass bei der Geburt der Kinder erst 18 Jahre alt war und seither zahllose Männergeschichten hatte. Kurzum: Abgesehen von Phils bester Freundin Kat (Svenja Jung, Fucking Berlin) und der der Familie zugeneigten lesbischen Tereza (Inka Friedrich) haben sie keine Freunde und Bekannten in dem Ort.

Als Phil nun in den Sommerferien aus einem Französisch-Camp zurückkehrt, hat sich etwas verändert: Glass und Dianne reden nicht miteinander, sie gehen sich demonstrativ aus dem Weg. Phil ist irritiert, fragt nach, aber niemand will ihm sagen, was passiert ist. Also konzentriert sich Phil auf Kat, die ihm erzählt, dass ein neuer Junge an die Schule kommt. Und am ersten Schultag sieht Phil dann, dass es Nicholas (Jannik Schümann) ist, für den er schon eine ganze Weile schwärmt.

Die Mitte der Welt basiert auf dem gleichnamigen Coming-of-Age-Roman von Andreas Steinhöfel, der insbesondere dadurch überzeugt, dass es innerhalb der Entwicklung der Hauptfigur nicht um seine sexuelle Orientierung geht. Phils Mutter war schon sehr früh klar, dass ihr Sohn schwul ist, sie hat überhaupt keine Probleme damit – ebenso wenig Kat oder Dianne. Vielmehr ist Phil mit anderen Problemen beschäftigt: Er vermisst seinen Vater. Den Mann, den er niemals kennengelernt hat, von dem seine Mutter nie spricht – und der bei ihm dennoch eine Lücke hinterlassen hat. Außerdem ist er derjenige, der seine Familie zusammenhält. Sehr früh hat sich gezeigt, dass Dianne die Unkonventionalität der Mutter nicht widerspruchslos akzeptiert, sie hinterfragt im Gegensatz zu Phil, warum die Kinder die Kämpfe ausfechten müssen, für die die Mutter sich entschieden hat, und ihre Folgen tragen müssen.

Diese Jugendbuchthemen von Pubertät, Selbstfindung, der ersten Liebe, Abnabelung von der Familie behandelt Andreas Steinhöfel in seinem knapp 500 Seiten langen Roman in einer Mischung aus Rückblende und Gegenwart. Dabei durchziehen die Erinnerungen des personalen Erzählers Phils jene Magie und Geheimnisse eines Kindes, das die gesamte Tragweite nicht immer versteht und erst in der Rückschau bisweilen begreift, was damals wirklich geschehen ist. Dadurch wird Visible zu einem wundersamen, fast märchengleichen, aber melancholischen Ort. Die Adaption von Jakob M. Erwa fängt diese Stimmung vor allem in den Bildern ein. Schon am Anfang lässt er durch die Aufnahmen von zwei sehr blonden, langhaarigen Kindern deutlich werden, wie verbunden diese Geschwister sind, die dort durch das hohe Gras laufen – und wenig später verstört im Auto der Mutter sitzen, wenn diese laut hupend durch den Ort fährt, weil jemand „Bitsch“ (sic!) an ihren Wagen geschrieben hat. Das ist ein eindringliches Bild für die Kindheit der Geschwister, die sich ein Leben als Individualisten nicht ausgesucht haben, sondern es aufgedrängt bekommen. Auch wenn der jugendliche Phil immer wieder einen Waldweg entlangfährt, mal überglücklich verliebt, dann wieder von Zorn und Enttäuschung angetrieben, zeigen die Bilder, was die Dialoge nicht zu packen bekommen: den Widerstreit der Gefühle, die Hingabe und Zerrissenheit, die Probleme und Überwältigung von Phil. Sobald die Interaktion der Schauspieler einsetzt, sie sich miteinander unterhalten oder oftmals übertrieben Gefühle auszudrücken versuchen, geht die Sensibilität verloren, die in den Bildern enthalten ist. Eine Ausnahme ist das Schauspiel von Ada Philine Stappenbeck, die als Dianne die eigentlich am wenigsten zugängliche Figur spielt, der es aber gelingt, (Selbst-)Ekel, Schuldgefühle, Enttäuschung, Verlorenheit und Hingabe auszudrücken. Die Sequenz, in der sie schildert, weshalb ihre Beziehung zu Glass belastet ist, ist die emotionalste des gesamten Films. Dagegen sind manche Szenen nachgerade plump – und insbesondere wenn Glass erscheint, ist das Tempo oftmals überzogen. Auch überlässt das Drehbuch von Jakob M. Erwa recht wenig der Interpretation des Zuschauers und lässt letztlich Erzähler Phil erklären, was die Mitte der Welt ist. Für diese Frage findet sogar der sehr auserzählte Roman noch mehrere Antwortansatzmöglichkeiten.

Somit bleiben bei Die Mitte der Welt insbesondere zwei Dinge in Erinnerung: die Bilder eines langen Waldweges und die Selbstverständlichkeit, mit der die Homosexualität der Hauptfigur behandelt wird. Es wird – wie im Buch – nicht groß thematisiert, dass Phil seine sexuellen Erfahrungen mit einem Jungen macht, spielt in der Inszenierung und der Anlage der Geschichte keine Rolle. Weitaus dramatischer ist Phils Abnabelung von seiner Familie, die nur möglich ist, indem er herausfindet, welche Menschen ihm wichtig sind – und wie er für sich einstehen kann. Und das ist wohltuend unaufgeregt.
 

Die Mitte der Welt (2016)

Das Leben könnte so einfach sein. Aber das gilt nicht für den 17-jährigen Phil (Louis Hofmann, Unter dem Sand). Er lebt mit seiner Zwillingsschwester Dianne (Ada Philine Stappenbeck) und alleinerziehenden Mutter Glass (Sabine Timoteo) in einem kleinen Dorf in einem alten Haus namens Visible – und allein damit sind sie schon anders als alle anderen dort.

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