Die Hälfte der Stadt

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

Das Vermächtnis des jüdischen Fotografen

Auf den Straßen der polnischen Stadt Kozienice herrschte früher polyglottes Stimmengewirr: Die Bewohner sprachen Deutsch, Polnisch, Jiddisch, Russisch. Aber im Zweiten Weltkrieg wurden fast alle Dokumente vernichtet, die über das Leben und das Schicksal ihrer Bewohner Aufschluss geben könnten. Gegen das Vergessen kämpft nicht nur ein örtlicher historischer Verein an, sondern auch der junge Fotograf Michal Wozny. Er sammelt alte Fotografien und sucht im heutigen Stadtbild nach den Orten, an denen sie entstanden. Die Treppe, auf der ein paar junge Männer mit Judenstern posieren, steht noch immer: Sie gehört zum Haus des alten Ehepaars Mlastek, in das der jüdische Fotograf Chaim Berman zog, als die Deutschen im Ort ein Ghetto errichteten. Dann wurde er zur Zwangsarbeit deportiert und ließ im Keller sein fotografisches Archiv zurück. Die Mlasteks brachten es auf den trockeneren Dachboden, wo die Aufnahmen 50 Jahre lang unbeachtet blieben.
Chaim Berman überlebte die Nazi-Herrschaft nicht. Im Dokumentarfilm von Pawel Siczek, einer deutschen Produktion, dienen seine Fotografien als Kompass auf einem Streifzug durch die Vergangenheit der Stadt. Vor allem aber erzählt Siczek die Geschichte der Familie Berman selbst. Er befragt Zeitzeugen, den Neffen Chaim Bermans, die Tochter des Lehrers, der Chaim und einen seiner Söhne aus dem Zwangsarbeiter-Lager befreite und in seinem Haus vor den Nazis versteckte.

Dokumentarfilme mit historischem Thema wählen nicht selten die fiktionale Methode des Reenactments, um in das Leben von einst einzutauchen. Siczek zeigt auf ähnliche, aber originellere Weise, wie sich das Familienleben der Bermans abgespielt haben könnte: mit animierten Zeichnungen, in denen die Figuren eine Stimme erhalten. Die Bilder legen sich jäh über reale, gegenwärtige Hintergründe, vermischen sich mit ihnen, ersetzen sie für eine Weile vollständig. Durch einen bevölkerten Schulkorridor der Gegenwart laufen plötzlich Trickfiguren, unter ihnen Chaims Sohn Amos. So schaut der Film hinter die Oberfläche der Jetztzeit, findet überall Berührungspunkte mit der Vergangenheit, demonstriert mit Poesie und Intuition, weshalb es für eine Gesellschaft, eine lokale Gemeinschaft, so wichtig ist, ihren Werdegang zu kennen.

Eine männliche Erzählstimme flicht ab und zu Fakten ein, über die deutschen Bauern, die hier an den Ufern der Weichsel lebten und die der russische Zar im 1. Weltkrieg für vier Jahre in die Verbannung schickte. Nach dem Einmarsch der Nazis 1939 gehören die deutschen Bewohner Kozienices zur Herrenrasse, es bildet sich ein „volksdeutscher Selbstschutz“. Der neue Bürgermeister trägt einen deutschen Namen, er lässt sich vom Fotografen Berman mit Hakenkreuzbinde ablichten. Auch die Protagonisten der Gegenwart begeben sich auf Spurensuche, interpretieren ihre Funde. Der Sohn des nach Amerika ausgewanderten Bruders von Chaim Berman besucht Kozienice. Er wundert sich, dass der alte Saturnin Mlastek Jiddisch versteht. Dieser antwortet, in Kozienice hätten in seinen jungen Jahren mehr Juden als Polen gelebt. Stadtrat Chaim Berman hält in einer Zeichentricksequenz noch kurz vor dem Krieg eine Rede, in der er die jüdischen Bewohner beschwört, sich nicht von Mitbürgern vertreiben zu lassen, die ihre Fensterscheiben einschlagen. Und immer wieder erzählen auch seine Porträtfotos, wie es einmal war. Man sieht lachende Menschen, stolze, herausgeputzte Kinder mit Schleifen oder Indianerfedern im Haar, junge, glückliche Paare, dann aber auch Männer in Uniform und Mienen, aus denen die Not spricht. Zu dieser Fotoschau erklingen auch mal wie von fern Stimmen. Ein spannender, berührender Film, der intensiv nach der Vergangenheit forscht und sie mit sinnlicher Vorstellungskraft aufspürt.

Die Hälfte der Stadt

Auf den Straßen der polnischen Stadt Kozienice herrschte früher polyglottes Stimmengewirr: Die Bewohner sprachen Deutsch, Polnisch, Jiddisch, Russisch. Aber im Zweiten Weltkrieg wurden fast alle Dokumente vernichtet, die über das Leben und das Schicksal ihrer Bewohner Aufschluss geben könnten. Gegen das Vergessen kämpft nicht nur ein örtlicher historischer Verein an, sondern auch der junge Fotograf Michal Wozny.
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