Die geteilte Klasse

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Deutsch-polnisches Klassentreffen

„Bezirksschule 5“ steht heute noch in großen weißen Lettern an dem Backsteinbau in Bytom im polnischen Oberschlesien zu lesen. Die deutsche Inschrift ist kein Zufall, sondern manifestiert lediglich das, was im Inneren der Lehranstalt seit vielen Jahren Realität war. Rund die Hälfte seiner Mitschüler, so erinnert sich der Regisseur Andrej Klamt zu Beginn seines Dokumentarfilmes über Lebenswege, habe ähnlich wie er deutsche Nachnamen getragen: Schmitt oder eben Klamt. Was wiederum an der Geschichte Bytoms liegt, das bis 1945 Beuthen hieß und Teil des deutschen Reiches war. Als der Krieg zu Ende war und aus Beuthen Bytom wurde, blieben viele Deutsche und mussten eine Loyalitätserklärung abgeben, weshalb sie „Polen für 25 Zloty“ genannt wurden – soviel kostete nämlich das Formular, mit dem aus Deutschen Polen wurden.
Ganz so einfach war die Naturalisierung der Deutschstämmigen aber nicht, wie sich manche der früheren Klassenkameraden erinnern: Er sei, so sagt einer „Krautfresser“ oder „Hitlerjunge“ genannt worden; andere hingegen wollen von dem unsichtbaren Riss, der durch die Klasse ging und der dem Film seinen Titel gab, nichts bemerkt haben. Später dann wurde aus dem nicht Greifbaren etwas sehr Konkretes, wenn manche der Klassenkameraden von einem Tag auf den anderen nicht mehr in die Schule kamen, weil sie als Spätaussiedler in die Bundesrepublik gegangen waren. Rund die Hälfte der Klasse hat mit der Zeit diesen Weg genommen – und es waren, wie einer bekennt, in erster Linie wirtschaftliche Gründe. Die Verlockungen des vermeintlich oder tatsächlich „Goldenen Westens“ waren mittels geschmuggelter Otto- oder Neckermann-Kataloge bis nach Oberschlesien vorgedrungen. Als Andrzej Klamt 15 Jahre alt war, siedelte auch seine Familie in den Westen über. Die Erinnerungen an die Zeit vorher aber hat er nie vergessen. Und vielleicht ist es typisch für diese Lebensphase, wenn man Mitte 40 ist, dass man auf die Vergangenheit zurückblickt und das bisher Erlebte Revue passieren lässt. Der Regisseur, in dessen weicher Stimme man immer noch die dialektale Färbung eines in Polen Geborenen hört, unternimmt diesen Weg nicht alleine, sondern in Form eines filmischen Klassentreffens – und es ist eine ebenso logische wie gelungene Metapher für den Prozess des Erinnerns.

In teilweise sehr persönlichen Interviews entwirft Die geteilte Klasse gerade in all den Widersprüchlichkeiten, die in den Gesprächen zutage treten, ein schlüssiges Bild dessen, was damals mit den Kindern, die weggingen und jenen, die zurückblieben, passiert ist. So disparat die Eindrücke aber auch gewesen sein mögen: Allein die Bilder von damals, die heute viel weiter zurückzuliegen scheinen, erwecken den Eindruck, dass der Abschied oder das Zurückbleiben, diese ersten Erfahrungen von Trennung und Fremdsein, den Zauber der Kindheit jäh beendet haben.

Andrzej Klamts Film bleibt aber bei aller Melancholie über den Abschied von der Kindheit nicht in der Vergangenheit, sondern schreitet ebenso voran wie seine Protagonisten. Früher, so heißt es an einer Stelle, habe man sich in Polen noch besuchen können, ohne sich vorher telefonisch anzumelden – das wäre irgendwie typisch deutsch gewesen, ebenso wie die Jagd nach dem Geld. Heute nähere man sich einander an, im Guten wie im Schlechten. Dennoch und bei allen Schwierigkeiten, die der Aufbau Polen nach sechzig Jahren kommunistischer Herrschaft mit sich bringt, will kaum jemand zum alten System zurückkehren.

Mit seinem sehr persönlichen Film, in dem der Regisseur überaus präsent ist, greift Klamt ein wichtiges Thema auf, das bislang zu den unbearbeiteten, den unbewältigten Punkten der deutschen Geschichte nach dem Jahre 1945 gehört. Mittlerweile sind die deutschstämmigen Spätaussiedler aus Polen in der Mitte der Gesellschaft angekommen, zwei von ihnen namens Miroslav Klose und Lukas Podolski spielen gar in der deutschen Fußballnationalmannschaft, deren Team die „Deutschen“ in Bytom beim Gewinn der Fußball-WM im Jahre 1974 noch mehr oder weniger verstohlen zujubelten.

Heute sind Polen und Deutsche aufeinander zugegangen. Die Wunden der Vergangenheit sind nicht vergessen, aber sie sind weitgehend verheilt. Und gerade deshalb, so schließt der Film, ist es wichtig, die Vergangenheit nicht aus dem Auge zu verlieren – damit die Zukunft eine bessere wird.

Die geteilte Klasse

„Bezirksschule 5“ steht heute noch in großen weißen Lettern an dem Backsteinbau in Bytom im polnischen Oberschlesien zu lesen. Die deutsche Inschrift ist kein Zufall, sondern manifestiert lediglich das, was im Inneren der Lehranstalt seit vielen Jahren Realität war.
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