Die Familie

Eine Filmkritik von Jörg Gottschling

Zurück am Todesstreifen

Irmgard B., eine ältere Frau, wirkt etwas mitgenommen: „Zwei Jahre auf Bewährung. Für einen Todesschützen. Das ist doch was!?“ Szenenwechsel: Berlin bei Nacht — die Skyline. Nacheinander werden Namen, Geburtstage und Sterbedaten vorgetragen, es sind die Daten der Opfer an der einstigen innerdeutschen Grenze. Sie reihen sich so zahlreich aneinander, dass die Aufzählung immer hektischer und drängender zu werden scheint und schließlich zu einem sich überschlagenden Kanon des Todes und Mordens anschwillt. So beginnt Die Familie.
„Mindestens 130 Menschen wurden zwischen 1961 und 1989 an der Berliner Mauer getötet oder kamen im Zusammenhang mit dem DDR-Regime ums Leben.“ Die Taten wurden totgeschwiegen und die Leichen irgendwo verscharrt. In ähnlicher Weise geschah dies auch mit den Überresten der Todeslinie, die teils durch die Witterung, teils durch Menschenhand nach und nach beseitigt wurden.

In Stefan Weinerts Dokumentarfilm Die Familie begeben sich Angehörige und Täter auf eine Spurensuche in die Vergangenheit. Zurückgekehrt an jene Orte, an denen früher die Grenze verlief, erzählen die Zeitzeugen aus ihrer Sicht von ihren gescheiterten Fluchtversuchen, von ihren tragischen Einzelschicksalen und dem Verlust eines Familienmitglieds.

In dem Dokumentarfilm Die Familie geht es nicht nur um ein Einzelschicksal, sondern um kollektive Erinnerungen und Erfahrungen an ein Staatssystem, das seine Taten nach außen hin bis zum letzten Tag des Bestehens erfolgreich zu verschleiern wusste. Viele Familien erlitten damals einen schweren Verlust, als ihre Verwandten versuchten über die Grenze zu entkommen und bei dem Versuch ihr Leben verloren. Aus ihrer Sicht stehen die Angehörigen mit ihrer Ungewissheit seit Jahrzehnten alleine da.

So individuell jede einzelne Geschichte auch sein mag, so sehr teilen sich die Hinterbliebenen jedoch ein Schicksal, das sie alle zu einer großen Meta-Familie zusammenwachsen lässt – von eben dieser Familie erzählt Stefan Weinerts Film. Einzelne Mitglieder dieser Familie blicken zurück auf ihre persönliche Episode und werden mit der Wahrheit über den Verbleib ihrer Familienmitglieder konfrontiert, indem sie erstmals einen Einblick in die Stasi-Akten erhalten.

Die Darstellung kontrastiert den Inhalt: Der Film Die Familie zeigt Archivaufnahmen, Fotos, Akten und eine Grenze, die keine mehr ist. Die Erinnerungen an die Taten scheinen genauso zu verblassen, wie sich die Einstellungen und das Bild amateurhaft und blass präsentieren. Doch es sind nicht die Bilder, die eine Geschichte erzählen. Vielmehr helfen die Bilder, dem tragischen Verlust der Menschen ein Gesicht zu geben. So werden immer wieder Gesichter zeigt, in denen das Leben Spuren hinterlassen hat: Tiefe Augenringe und zerknitterte Gesichter bringen die gebrochenen Seelen der Menschen nach außen zum Vorschein.

Diese gebrochenen Gesichter gehören echten Menschen, die von echten Ereignissen erzählen – Ereignisse, die nicht vergessen werden sollten: Deutsche schossen auf Deutsche. Viel schlimmer noch: Menschen schossen auf Menschen. Menschen, die keinen Groll aufeinander hatten. Und Familien verloren ihre Liebsten. Das Trauma sitzt verständlicherweise noch heute tief. So ist es nicht verwunderlich, dass einige Angehörige, auch nach mehr als einem Vierteljahrhundert, penibel und auf die Sekunde genau den Tag, die letzten Minuten an der Grenze rekonstruieren können, versuchen sie doch bis heute, die Vergangenheit zu überwinden. Da sich bis heute kaum einer der „Täter“ öffentlich zu den Ereignissen äußern möchte, liegt der Schwerpunkt des Films notgedrungen auf der Position der Opfer – dadurch wirkt Die Familie stellenweise einseitig erzählt.

Man kann durchaus vermuten, dass sich Stefan Weinert dieses „Makels“ bewusst ist; doch er begeht nicht den Fehler, diese Schwächen (sofern man diese Form der mitfühlenden Parteilichkeit überhaupt als „Schwäche“ bezeichnen mag) durch relativierende Kommentare ausbügeln zu wollen. Stattdessen konstruiert er eine Form der Neutralität, für die die Betroffenen selbst sorgen. Indem die Angehörigen selbst in ihren alten Stasi-Akten lesen und einzelne, prägnante Passagen daraus vortragen, wirkt dieses nüchtern-sterile Beamtendeutsch umso beredter; aus dem Zusammenprall von Amtssprache und Berliner Schnauze entsteht ein Fluss der Worte, der sich selbst kommentiert und korrigiert.

Logisch und verständlich, dass diese überaus emotionale Versuchsanordnung ein neutrales Zentrum benötigt: In Die Familie kommt diese Rolle dem Staatsanwalt Bernhard Jahntz zu, der sachlich und kompetent die Problematik der Schuldzuweisung und damaligen Zustände erklärt. Es sind seine Einlassungen, die versuchen, das eigentlich Unfassbare fassbar zu machen. Damals wie heute sind die Grenzen zwischen Recht und Unrecht oftmals nur zu erahnen, denn die Täter von einst berufen sich auch heute noch darauf, dass sie lediglich Befehle befolgt hätten – eine Rechtfertigungsstrategie, die bis heute nachwirkt. Bis heute herrscht Uneinigkeit darüber, wie viele Menschen zu den Tätern und wie viele zu den Opfern gezählt werden können. Die Zahlen aus aktuellen Studien und die offiziellen Zahlen des früheren Staatsapparates differieren naturgemäß in erheblichem Maße. Eine gelungene Aufarbeitung der Todesschüsse an der deutsch-deutschen Grenze, das macht Jahntz deutlich, hat bis zum heutigen Tage nicht in ausreichendem Maße stattgefunden. Dabei geht es Stefan Weinert nicht um eine Generalabrechnung mit dem Machtsystem der DDR, sein Schwerpunkt liegt einzig und allein auf den Opfern der Grenzübertritte – und genau durch diese Fokussierung gelingt es dem Film, mitfühlend zu sein und dabei den Schicksalen der Menschen unglaublich nahe zu kommen.

Die Familie ist ein Dokumentarfilm voller Impressionen und ausbrechenden Emotionen, die gelegentlich in ein Gefühlschaos münden und denen sich der Zuschauer unweigerlich stellen muss – keine leichte Kost, aber eine, die sich auf allen Ebenen lohnt.

Die Familie

Irmgard B., eine ältere Frau, wirkt etwas mitgenommen: „Zwei Jahre auf Bewährung. Für einen Todesschützen. Das ist doch was!?“ Szenenwechsel: Berlin bei Nacht — die Skyline. Nacheinander werden Namen, Geburtstage und Sterbedaten vorgetragen, es sind die Daten der Opfer an der einstigen innerdeutschen Grenze. Sie reihen sich so zahlreich aneinander, dass die Aufzählung immer hektischer und drängender zu werden scheint und schließlich zu einem sich überschlagenden Kanon des Todes und Mordens anschwillt. So beginnt „Die Familie“.
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Meinungen

Matthias Fritsche · 03.11.2014

Hier werden Leute verurteilt, welche unter Befehlsnot standen.Hätten sie den Befehl nicht befolgt, wären sie bestraft worden und ihre Familien. Das war DDR-Recht und jeder der den Übertritt wagte, wusste, dass dies passieren kann und dass er die Grenzer in diesen Konflikt bringt " sich für ihn oder der Familie und sich selbst zu entscheiden " Ich glaube wer nicht selbst in solch einer Lage war kann das nicht beurteilen.
Jeder der einee Flucht wagte, wusste auch, dass er damit ein Leben "eines Grenzers " zerstören kann. Was hätten die Leute,welche heute urteilen, in solch einer Lage entschieden in Bruchteil von Sekunden?????????????????????????????????