Der blinde Fleck

Eine Filmkritik von Harald Mühlbeyer

Ein Glücks- und ein Hoffnungsfall für das deutsche Genrekino

Im November 2011 wurden mit einem Schlag die ungeheuren Vorgänge um den rechtsterroristischen NSU offenbar – Anlass dafür, Fragen zu stellen: Waren die NSU-Anschläge tatsächlich, wie häufig verlautbart, die ersten großen rechtsterroristischen Vorgänge in der BRD? Waren die jahrelang unterbliebenen Ermittlungen der erste Fall von Behördenversagen, wurde das erste Mal weggeschaut, war der Staat zum ersten Mal in ganz großem Stil auf dem rechten Auge blind?
Der blinde Fleck stellt diese Fragen ganz offen; und er beantwortet sie klar, indem er die ungeheuerlichen Vorgänge um die Ermittlungen vom Oktoberfestattentat am 26. September 1980 schildert. 13 Tote, über 200 teils schwer Verletzte: Der größte Terroranschlag nach dem Krieg in Deutschland, bis heute. Und noch immer sind Fragen offen: Denn der Bombenleger, Gundolf Köhler, selbst unter den Toten, wird bis heute offiziell als Einzeltäter geführt, Ermittlungen und Recherchen, die in dieser These Unzulänglichkeiten und Widersprüche sehen, wurden nie weiterverfolgt. In Der blinde Fleck nimmt der BR-Journalist Ulrich Chaussy die NSU-Morde zum Anlass, an 1980 zu erinnern. Und diesen Fall skandalösen Umgangs mit dem Attentat klar anzuprangern. Chaussy ist ein Mann der ersten Stunde, hat schon in den frühen 1980er Jahren umfassend recherchiert, klares Versagen der Ermittlungsbehörden zu Tage befördert – ohne dass dies Konsequenzen gehabt hätte.

Das Hochinteressante an Der blinde Fleck: Es ist ein Genrefilm. Ein Kriminalstück, ein Recherchethriller, wie man ihn sonst nur aus Amerika kennt. Ein spannendes Stück Zeitgeschichte, verpackt in eine spannende Erzählung vom Journalisten, der sich gegen die Offiziellen mit ihren Erklärungen, Vertuschungen, Störmanövern wendet. Politische Aufklärung in Form populären Erzählkinos. Und das Erstaunliche: Das funktioniert. Da wird nicht einfach eine Hollywoodformel nachgeplappert, da werden nicht einfach Genreversatzstücke aneinandergereiht, nein: Da wird das spezifisch Deutsche des Inhalts in eine universelle Form gegossen, und zwar randvoll und ohne dass etwas überschwappt.

Daniel Harrich und sein Drehbuchautor Ulrich Chaussy berichten von den Recherchen Ulrich Chaussys – und von den Hintergründen in den Hinterzimmern der Macht, mit einem mächtigen Gegenspieler, dem zweiten Mann im Freistaate direkt nach Strauß, Hans Langemann. Benno Führmann spielt Chaussy als idealistischen Fahnder, der freilich zunächst doch nur seinem Job als Journalist nachgeht. Heiner Lauterbach gibt seinen Langemann als harten Hund, als undiplomatischen Strippenzieher, der ohne Wenn und Aber das Linke aus dem Freistaat rausdrängen möchte und dem Rechten mit Nachsicht begegnet.

Was Der blinde Fleck suggeriert, muss nicht wahr sein – wer weiß schon, was Langemann tatsächlich wem gesteckt hat, um eventuellen Ermittlungen gegen rechtsradikale Kreise wie die Wehrsportgruppe Hoffmann, der der Attentäter Köhler angehörte, vorzubeugen; und wen er mit welchen Drohungen oder Versprechungen auf seine Linie zu bringen vermochte. Doch die Wahrheit im Detail ist weniger wichtig als die Wahrheit im Geiste – und die wird in diesem Film mit klarer Haltung, ohne relativistisches Herumlavieren, zum Ausdruck gebracht.

Langemann, der Geheimdienstler, gegen Chaussy, der Journalisten – dazwischen Drohungen und Verunsicherung; ein Informant aus den innersten Kreisen der Macht und ein Journalistenkollege, der mit der Regierung kungelt; Ungereimtheiten und Ermittlungseinstellungen; Zeugenvernehmungen, die als unglaubwürdig und irrelevant eingestuft werden, Widersprüchlichkeiten im psychologischen Profil des Attentäters, Rechtsradikale, die Ehrensuizid begehen, um sich der Aussage zu entziehen, harte Konfrontationen zwischen Erster und Vierter Gewalt im Staate – Exekutive und Medien im Clinch, dazwischen die Justiz, die wenig Interesse am Großen Ganzen zeigt.

Ein konventioneller „deutscher“ Film ist dies nicht; eine klischeebeladene Kopie angelsächsischer Vorbilder auch nicht. Zwar überzieht Harrich ab und an in seinen Genreelementen – die Nebengeschichte um Chaussy und seine Frau soll eine neue emotionale Front eröffnen, lenkt aber eher ab von der Hauptsache, und gegen Ende wird eine Verfolgungsjagd eingeschoben, die zu sehr rein dem Genregerechten, dem Genregedanken geschuldet ist.

Als einer der wenigen Versuche eines umfassenden Politthrillers, der zudem seine eigene Haltung deutlich zeigt und mit Anklage nicht hinterm Berg hält, ist Der blinde Fleck ein Glücks- und ein Hoffnungsfall für das deutsche Kino.

Der blinde Fleck

Im November 2011 wurden mit einem Schlag die ungeheuren Vorgänge um den rechtsterroristischen NSU offenbar – Anlass dafür, Fragen zu stellen: Waren die NSU-Anschläge tatsächlich, wie häufig verlautbart, die ersten großen rechtsterroristischen Vorgänge in der BRD? Waren die jahrelang unterbliebenen Ermittlungen der erste Fall von Behördenversagen, wurde das erste Mal weggeschaut, war der Staat zum ersten Mal in ganz großem Stil auf dem rechten Auge blind?
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Meinungen

Leo · 02.02.2014

Die Vermischung von historischen Fakten und Fiktion finde ich immer etwas unglücklich; wer im Publikum kann schon erkennen, was wahr und was erfunden ist. Ob Fanz Josef Strauß tatsächlich Langemann zur Vertuschung aufgefordert hat, oder nicht...???

Aber wenn man sich die vielen Pannen bei den Ermittlungen zu den NSU-Morden in's Gedächtnis ruft: Die Geschichte, so wie sie im Film erzählt wird, wirkt erschreckend authentisch; auch weil der Film auf Effekthascherei und allzu komplizierte Verschwörungstheorien verzichtet. Die oben schon erwähnte Verfolgungsjagd kann man durchaus verzeihen, auch wenn sie wrilich sinnfrei ist... ;)