Das weiße Band

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Die Saat des Bösen

Auf den ersten Blick sieht es beinahe so aus, als seien hier alte Bilder und Postkarten aus der Vergangenheit, die wir allzu erinnerungsselig gerne als „die gute alte Zeit“ bezeichnen, zu neuem Leben erwacht. Die in Schwarzweiß mit Sepiatönen fotografierten Bilder (beeindruckend gefilmt vom Christian Berger), mit denen Michael Haneke von einem kleinen Dorf in Norddeutschland in den Jahren 1913 und 1914 erzählt, wirken beinahe ebenso idyllisch wie der trügerische Subtitel „Eine deutsche Kindergeschichte“. Doch wer Haneke kennt, der weiß, dass Nostalgie und Verklärungen nicht seine Sache sind.
Dabei beginnt alles so harmlos: Eine malerische Ortschaft irgendwo in Mecklenburg, Bilder von wogenden Getreidefeldern und Wolken, die rasch über den Himmel ziehen. Dazu die Protagonisten dieser Geschichte, die wie ein Sammelsurium all jener erscheinen, die in Gemeinden wie diesen das Sagen haben: Der Gutsherr (Ulrich Tukur), der Lehrer (Christian Friedel), der Arzt (Rainer Bock) und der protestantische Pfarrer (Burghart Klaussner), der Verwalter (Josef Bierbichler) und all die Bauern, die hier, fernab der Industrialisierung ihrer Arbeit nachgehen. Die Frauen haben hier weniger zusagen, das merkt man schnell. Und Kinder haben hier zu parieren, sie werden gedemütigt, missbraucht, mit Reitgerte und Bibel systematisch auf Unterwerfung und Gehorsam getrimmt. Was auf den ersten Blick wie eine ländliche Idylle erschien, entpuppt sich schnell als Zwangsherrschaft, als Netz aus Abhängigkeiten, Unterdrückung und Gewalt, die gemäß der Machtstrukturen von oben nach unten weitergereicht wird. Doch dann häufen sich mysteriöse Ereignisse, die den etablierten Strukturen von Machtgebrauch und –missbrauch zuwider laufen: Zunächst stürzt das Pferd des Arztes durch ein kaum sichtbares Seil und der Reiter trägt erhebliche Verletzungen davon, dann wird der Sohns der Barons von Unbekannten schwer misshandelt. Dann brennt die Scheune des Gutshofes nieder und einem behinderten Kind werden die Augen ausgestochen. Schnell wird klar, dass diese Anschläge auf die gewohnten Strukturen von einem Täter aus der Gemeinschaft selbst begangen werden müssen. Doch wer ist der Unhold, dessen Treiben die natürlichen Hierarchien auf so infame Weise in Frage stellt?

Was für ein Film: Michael Hanekes neuestes Werk Das weiße Band – Eine deutsche Kindergeschichte ist ohne jeden Zweifel einer der Filme, die auch über die Jahre hinweg Bestand und Relevanz behalten werden. Selbst wenn es nicht klappen sollte mit einem Oscar – der Film wird als deutsche Beitrag ins Rennen gehen – dies ist der vielleicht wichtigste Film in der sowieso sehr beeindruckenden Karriere Hanekes. Und das ist umso erstaunlicher, da Haneke hier Neuland betritt und erstmals einen Film dreht, der in der Vergangenheit angesiedelt ist. Aber vielleicht liegt ja genau hierin der Clou: Trotz der genauen Verankerung an einem ganz bestimmten Ort und zu einer ganz bestimmten Zeit ist diese Geschichte so deutlich als moralische Parabel gestaltet, dass sich die Verbindungen zur Gegenwart ganz von selbst einstellen. Ebenso kann man diesen Film natürlich als Studie zum Entstehen des Nationalsozialismus lesen, gleichzeitig aber besitzt die Geschichte solch eine Allgemeingültigkeit, dass sie in nahezu jeder „zivilisierten“ Gesellschaft angesiedelt sein könnte.

Auch sonst ist vieles an Das weiße Band ungewöhnlich: Während es früher in seinem Film stets ein Schockmoment gab, während dem das Böse plötzlich die scheinbare Idylle zerstörte, passiert dies nach und nach und wirkt sich wie ein schleichendes Gift auf die im Glauben fest verbundene Gemeinschaft aus. Und wo es in Hanekes früheren Filmen häufig einen Rest an Unerklärlichem gab, ein Geheimnis, das von der Unberechenbarkeit des Bösen kündete, bleiben diese Mal kaum Fragen offen, wie Gewalt und das Grauen von Krieg, Vernichtung und Faschismus in die Welt kommen. Die Frage nach den Urhebern der grausamen Taten gerät dabei vollkommen in den Hintergrund – weil in einer rigiden Gemeinschaft wie dieser jeder zum Mörder werden kann. So ahnen wir zwar zum Ende die Wahrheit – auch wenn die Erzählstimme zu Beginn dieses Filmes selbst zugibt, dass sie nicht wisse, ob die Geschichte in allen Details der Wahrheit entspräche. Doch das ist nach 145 Minuten ohnehin längst nicht mehr von Belang. Da die Befriedigung einer „Auflösung“ des Falls aufgrund der Machtstrukturen und deren Folgen sowieso eine zutiefst unbefriedigende wäre.

Hanekes Diagnose der Welt ist niederschmetternd. Und sie ist sowohl rein historisch als präzise Beschreibung eines Dorfes am Vorabend des Ersten Weltkrieges wie auch im Hinblick auf den gesamtgesellschaftlichen Rahmen von beängstigender Präzision. In einer herzlosen Gesellschaft, die alles kontrollieren und zähmen will, breitet sich die Saat des Bösen, des Gewalttätigen und Menschenverachtenden aus und bereitet den Boden für Kriege, totalitäre Regierungsformen und Chaos.

Wobei Parallelen zum Jetzt und Hier sich durchaus aufdrängen: Wenn wir uns umschauen und genau hinsehen, was derzeit in unserer Gesellschaft stattfindet an Verwerfungen und Kontrollversuchen, dann ahnen wir, dass dieses Werk nicht allein auf die Zeit vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges beschränkt ist. Dass der Keim des Bösen nach wie vor auf fruchtbaren Boden fällt. Und das macht diese erschreckende und glasklare Parabel zu einem Werk voller Wahrheit und Grauen. Wie schrecklich. Und wie gut, dass jemand wie Michael Haneke genau hinschaut und solch einen zwingenden Film daraus gemacht hat. Ob wir daraus etwas zu lernen vermögen, das steht wiederum auf einem ganz anderen Blatt.

Das weiße Band

Auf den ersten Blick sieht es beinahe so aus, als seien hier alte Bilder und Postkarten aus der Vergangenheit, die wir allzu erinnerungsselig gerne als „die gute alte Zeit“ bezeichnen, zu neuem Leben erwacht. Die in Schwarzweiß mit Sepiatönen fotografierten Bilder (beeindruckend gefilmt vom Christian Berger), mit denen Michael Haneke von einem kleinen Dorf in Norddeutschland in den Jahren 1913 und 1914 erzählt, wirken beinahe ebenso idyllisch wie der trügerische Subtitel „Eine deutsche Kindergeschichte“. Doch wer Haneke kennt, der weiß, dass Nostalgie und Verklärungen nicht seine Sache sind.
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Meinungen

Manstruator · 08.03.2010

Der Film wirkt außerordentlich subtil aufs Gemüt. Eine ausweglose Landszenerie wird gezeigt. Aus diesem sozialen Kontext kann hier Niemand entrinnen. Alltags-Szenen zeigen zum Teil berührend abstoßenden Zwang im Einzelfall, der Zuschauer wird so mit eigenem Erleben konfrontiert. Und wenn er solche Szenen als opfer oder Täter nicht kennt, dann zeigen ihm diese Momente, was wirklich geschieht, wenn er im wahren Leben sonst wegschaut.
Das Dorfdrama ist eine Mahnung, den Mitmenschen Respekt zu zollen. Durch den Missbrauch von Macht werden Biografien unglücklich beeinflusst oder zerstört, Unterwürfigkeit oder Sadismus der Boden bereitet.
Schläge, Körperverletzung, Zucht und Ordnung wie gezeigt, wecken Gedanken an gewisse Klosterschulen, Verhörmethoden bei der GESTAPO oder Farbige, die sich dank Waffengewalt nackt dem polizeilichen Sadismus in sachsen-anhaltinischen Zellen unterwerfen dürfen.
Mir fallen da auch dem Volke verordnete Nacktscanner in den Sinn. Bisher durften Sicherheitsbeamte von Hand zufassen, wie es ihnen beliebte, nun soll eine Peepshow veranstaltet werden. Nur eben nicht für Pater. Gleichheitsgrundsatz? Achtung vor der Menschenwürde?
Ich denke weiterhin an die Prügelstrafe im Kaiserreich, im dritten Reich und auch an Schulen nach dieser Zeit, an waterboarding, an gewisse Gefängnisse im IRAK, an misshandelte Frauen, die türkische Gefängnisse trotzdem überlebt haben, an Gefangene, die in deutschen Polizeirevieren im 21. Jahrhundert aus Versehen verbrennen. Achtung vor der Menschenwürde?

So bin ich froh, dass zu "diffiziler Gewalt", also einer eher unangenehmen Sache, die es schon immer gab, in Deutschland überhaupt eine Diskussion geführt wird.
Neuerdings bemerken wir sexuell belästigte Jugendliche in Klöstern und führen eine Diskussion zu Gewalt in dieser Gesellschaft.
Die Presse heizt das Thema so an, als ob Voyeurismus oder die Betatscherei von Frischfleisch an Heimen, Internaten, Zeltlagern, Gefängnissen usw.
nicht zum Leben dazugehört, sondern gerade erst erfunden worden wäre, so gewissermaßen als Nachtrag zur Hexenverbrennung.
Und außerdem - um Mißbrauch in dem landläufigen Sinne - wie bei Vergewaltigungen - geht es hier nicht einmal.
Aber die Diskussion bezieht neuerdings auch die lang anhaltenden Schäden an der Psyche mit ein, wenn wie in solchen oder vergleichbaren Fällen der Wille gebrochen wird. Niemand weiß genau, wieviele gebrochene Menschen wegen solcher früh im Leben stattfindender Ereignisse oder Zwänge unter uns weilen. Sprechen wir darüber.

hb · 07.03.2010

beklemmender film, bedr... Mehr anzeigenückend und einem die luft abschnürend. eine starre welt, starre menschen, starre kleidung - gefangen in lieblosigkeit, einer berührungsfeindlichen verschlossenheit, einer ausweglosen wirtschaftlichen existenz. weit und breit keine offenheit mehr, kein raum, kein platz für individuelles, kein lachen, keine farben, kein freiraum in egal welcher richtung. und ganz gemäß dem gesetz von ursache und wirkung entwickelt sich allmählich ein unterschwelliger alptraum, der nicht gesehen werden will, aber ohne jede vordergründige deutungsabsicht um so deutlicher macht, auf welchem boden eine halbe generation gewachsen ist, wie groß die sehnsucht nach alternativen zwangsläufig gewesen sein muss. definitiv kein gemütlicher kinoabend, sondern bilder, blicke, die sich in ihrer verzweifelten ausweglosigkeit einbrennen und einen vermutlich lange nicht mehr loslassen werden.

Astrid · 11.01.2010

Zu dem Satz "Der Film wird als deutscher Beitrag ins Rennen gehen" ist interessant, dass Haneke ja ein österreichischer Regisseur und Drehbuchautor ist (vollständig dort aufgewachsen und studiert hat), der Film aber von einer Berliner Firma produziert wurde. Die Oscar-Regelungen sind sehr weit definiert, so kann ein Film durchaus nicht nur für ein Land ins Rennen gehen. In Österreich war man jedenfalls trotz Freude über Hanekes Erfolg enttäuscht, dass "Das weiße Band" als deutscher Film eingereicht wurde. Ich finde, Hanekes Werk ist in erster Linie ein künstlerisches und kein Unterhaltungsprogramm - was sich wohl die Leute erwartet hatten, die im Nachhinein dann von einem langweiligen/-atmigen Film u.Ä. sprechen. Hanekes Werk ist bestimmt nicht angenehm oder schön anzusehen - doch das muss, und will es ja auch nicht! Haneke ist ein Mensch, der der Welt wirklich etwas zu sagen hat - und das kann durchaus auch abgrundtiefe und schreckliche Gefühle hervorrufen. Wenn man bereit und stabil genug ist, einem zuzuhören, der etwas Unschönes und Unverschöntes zu erzählen hat, wird man einen bedeutenden Film erleben.

Peter G. · 05.01.2010

Ein faszinierender Film, das Erlebnis war so beindruckend, weil er so authentisch in Szene gesetzt wurde; da stimmte wirklich jedwedes auch noch so kleine Detail. Das ist sicher einer der bedeutendsten Filme, der in den letzten jahren in deutschen Landen hervor gebracht wurde, bravo!

Yvonne K. · 16.12.2009

ich habe selten einen so langweiligen film gesehen! viel zu langatmig und irgendwie bleibt vieles im unklaren. besonders das ende hat mich enttäuscht. daraus hätte man eine 30-minütige doku machen können. das hätte vollkommen ausgereicht. die 2 1/2 std. kamen mir doppelt so lang vor. ich war sehr erleichtert als der film endlich vorbei war.

Volker Kirsch · 24.05.2020

Sie haben offenbar nicht einmal ein Viertel des Films verstanden. Schauen Sie ihn sich nochmal in 20 Jahren an, wenn Sie reifer geworden sind. Wenn sie einen Krimi in sehen wollten, wenn Sie sich in der Geschichte des Faschismus nicht auskennen, ja dann freilich ist so ein Film nichts für Sie.

Ric · 16.12.2009

Bedrückender Film, aber genau das ist ja die Intention: "Das Böse in uns" darzustellen. Dies ist gelungen, auf eine schwer-zu-ertragende Weise. 2:25 h schwar-weiße, bewegende Bilder ohne Filmmusik, spannend, jedoch sehr gut gefilmt, irgendwo "interessant", doch für manch einen sicherlich zu langatmig.... Meiner Meinung nach nicht oscarreif!

peter · 18.11.2009

Der Film kommt nicht an Caché und Die Klavierspielerin ran, die beide bei mir so einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen haben, daß ich sie lange nicht aus dem Kopf bekam. Das war bei diesem Film nicht der Fall. Ich fand den Film streckenweise langatmig, zur MItte hin wurde er allerdings immer stärker, also es ist natürlich kein schlechter Film. Aber der Hype um Haneke geht mir langsam auf die Nerven, und ich hoffe, daß er keinen Oscar bekommt.

uwe · 17.11.2009

Großartiger Film. Sehr dicht und bewegend und auch mit bezaubernden Momenten.
Nur Detlev Buck passt da wirklich nicht rein. Er spielt sich halt immer selbst.

Dr. Meirer Klaus · 11.11.2009

Bin nun 69 Jahre. Werde diesen Film demnächst noch einmal mit meinen etwas älteren Freunden ansehen, um ihre Meinung zu hören. Obwohl in einem katholischen Dorf in Tirol aufgewachsen, habe ich ähnliche Zusammenhänge wahrgenommen wie das Joachim Kurz, besonders in den letzten beiden Absätzen, so treffend formuliert

gross,sabine · 07.11.2009

der bedrückendste film, denwir je gesehen haben.man konnte gar nicht luftholen,wir haben stunden grbraucht, um wieder zu uns zu kommen.ein oscar wäre das mindeste, was diesem film zusteht

anna · 31.10.2009

Könnt Ihr mir helfen? Wen spielt Detlev Buck? Habe ihn nicht erkannt. Ansonsten, guter Film, aber nicht der beste von Haneke, dessen penetrante "Psychologie" manchmal schon arg nervt.

Silent Rocco · 24.10.2009

Ein guter Film - ein schlechter Haneke.
Wunderbar zum überinterpretieren und eigentlich doch nix besonderes.
Teilweise sehr gut, teilweise armselig (Detlef Buck) gespielt.
Und definitiv nicht herausragend gefilmt.
Kino kann aufregender, spannender und viel mutiger sein als dieser trockene Fernsehhappen, der nur zum Futter für die elitäre Altkritikerrunde taugt.
Wie dieses Werk gleich noch einmal die Genialität eines Caché deutlich macht.
Schade. Aber für ein freudiges Schulterklopfen der Presse ist dieser Film ideal... vorhersehbare Kinomechanismen... jaja.

@Unter mir · 19.10.2009

Ein Amateurpsychologe schlägt gnadenlos zu ... wenn die Welt doch nur so einfach wäre :-)

Werner · 19.10.2009

Der Kritiker hat anscheinend Angst vor seiner eigenen Kindheit, weil er nicht auf den Punkt kommt. Er läßt es ganz einfach aus zu erwähnen, daß die Auswirkungen der Taten die wir als Erwachsener vollbringen ihre Ursache in der Kindheit haben. Denn die dort über die Sinne aufgenommenen Eindrücke werden neuronal abgespeichert und prägen für das weitere Leben.

Schlegel · 05.10.2009

Haneke hat immer wieder historische Stoffe verfilmt - z. Bsp. in den 80ern "Wer war Edgar Allen?" (mit üppiger Ennio-Morricone-Musik, man höre und staune) oder in den 90ern "Die Rebellion" nach Joseph Roth. Im Grunde könnte man auch den Fernsehfilm "Fraulein" oder die Kafka-Adaption "Das Schloß" in die Reihe stellen. So gesehen ist "Das weiße Band" nicht wirklich Neuland. Eher der Höhepunkt eines langen Nebenarms im Haneke-Oeuvre.

Binkowski · 19.08.2009

außer viel Geldausgabe keine besonderen Leistungen.