Das schlafende Mädchen

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Die Kunst, das Leben und die Liebe

Am Anfang dieses Films steht ein Bild — oder vielmehr ein Bild im Bild. In der Cadrage des Filmbildes, das sich schnell als eine Art Videotagebuch des jungen Beuys-Schülers Hans (Jakob Diehl) entpuppt, entsteht vor unseren Augen und durch die Hand des Künstlers ein neuer Bildrahmen an einer Wand, in den Hans schließlich selbst hineintritt und sich mittels einer Sprühdose selbst als Teil des so entstandenen Kunstwerks integriert. Ein Vorhaben, das freilich dank des gewählten starren Bildausschnittes nur teilweise gelingt, so dass Hans buchstäblich aus dem Rahmen fällt — es ist ein Menetekel dessen, was dem jungen Mann später nicht nur in seiner Kunst, sondern auch in seinem Leben widerfahren wird.
Hans ist ein stiller, eher grüblerischer Zeitgenosse, der sich zu Beginn der rebellischen Nach-68er-Jahre an der Düsseldorfer Kunstakademie als Schüler von Joseph Beuys auf der Suche nach seiner künstlerischen Haltung befindet. Seine ersten Arbeiten, die er festhält, sind Bildvermessungen, in denen er in beinahe schon komischer Weise (die an die Slapstick-Einlagen des großen Stoikers Buster Keaton erinnern), sein Material, sein Arbeitsgerät, seine Ausdrucksformen langsam in Besitz nimmt und sich mit ihnen vertraut macht. Die mathematische Akribie, mit der er dabei vorgeht, scheint ihm auch ein Schutzpanzer gegen die Welt zu sein. Doch diese lässt sich -natürlich — nicht so ohne weiteres aus der Kunst verbannen. Im Fall von Hans ist es die junge Ausreißerin Ruth, die sich sprichwörtlich ins wohlgeordnete Bild drängt und das sorgsam geplante Arrangement mit ihrer Vitalität sprengt. Man ahnt schnell, dass dies nicht nur für die Videoaktionen von Hans gilt, sondern ebenso für sein Leben. Ruth bleibt bei ihm und erfährt eine Wandlung, die Hans bald schon nicht mehr gefällt — wie einst Pygmalion sieht er das Mädchen als sein Eigentum, als seine Schöpfung an. Als Ruth ein Eigenleben entwickelt, in dessen Mittelpunkt nicht mehr er steht, macht er sie zum Bestandteil eines psychologisch grausamen Experiments.

Rainer Kirbergs fiktive Künstlerbiografie Das schlafende Mädchen ist ein interessantes Experiment, das vieles miteinander verbindet, was man sonst nicht unbedingt im Kino zu sehen bekommt: Neben der nahezu klassischen „Boy meets girl“-Geschichte, die im weiteren Verlauf immer mehr die Gestalt einer „amour fou“ annimmt, zeichnet der Film das minimalistische Bild eines Lebens in den frühen 1970ern im Milieu der Düsseldorfer Akademie nach, gibt Einblick in die aufkommenden künstlerischen Entwicklungen, die durch die ersten transportablen Videosysteme entstehen und entwirft dabei das Psychogramm zweier Außenseiter, die prototypisch für die Geistesströmungen der frühen 1970er in der Bundesrepublik stehen. Und nicht zuletzt ist dieser Film eine elegante Verbeugung vor dem wohl überragenden deutschen Künstler jener Zeit — Joseph Beuys. Nahtlos fügt sich das 1971/72 gedrehte Material von Hans-Peter Böffgen in den Look und die Erzählhaltung des Filmes ein und bestärkt den Eindruck, hier eher einem dokumentarisch-künstlerischen Werk beizuwohnen als einem Spielfilm. Der Gegensatz zwischen Fiktivem und Realem, zwischen Kunst und Leben, Selbsterforschung und Fremdbild ist nicht nur narratives Zentrum des Films, sondern spiegelt sich auch in der Wahl der Gestaltungsmittel wider.

Faszinierend ist dabei vor allem die formale Konsequenz, mit der Rainer Kirberg sein Experiment umsetzt: Stets sehen wir allein das, was die Videokamera von Hans festhält, lauschen seinen Worten und den Entgegnungen der anderen Beteiligten, die auf ihn reagieren und deren Stimmen aufgrund der größeren Entfernung zum Mikrofon sich beinahe im Grundrauschen verlieren. Schnitte, Kamerabewegungen (sofern nicht von Hans selbst verursacht) oder Filmmusik (sofern nicht am Set als natürliche Geräuschquelle vorhanden) sucht man hier vergebens, die Zwischentitel illustrieren die enge Verzahnung von Kunst und Leben, die auch das Grundthema dieses Filmes vorgibt, auf nahezu kongeniale Weise. Trotz der reichlich vorhandenen narrativen und formalen Widerborstigkeiten ist Das schlafende Mädchen niemals allein auf die oberflächliche Geschichte beschränkt, sondern erlaubt es dem Zuschauer gleichzeitig, der Aufbruchstimmung in der Bildenden Kunst und den gesellschaftlichen und (sub)kulturellen Aufbrüchen jener Jahre so genau nachzuspüren, als sei man in einer Zeitkapsel um vierzig Jahre zurückkatapultiert worden. Sicherlich keine leichte Kost und aller Voraussicht nach kein Film, der je ein größeres Publikum erreichen wird. Und dennoch (oder wahrscheinlich gerade deswegen) hat Das schlafende Mädchen einiges zu bieten.

Das schlafende Mädchen

Am Anfang dieses Films steht ein Bild — oder vielmehr ein Bild im Bild. In der Cadrage des Filmbildes, das sich schnell als eine Art Videotagebuch des jungen Beuys-Schülers Hans (Jakob Diehl) entpuppt, entsteht vor unseren Augen und durch die Hand des Künstlers ein neuer Bildrahmen an einer Wand, in den Hans schließlich selbst hineintritt und sich mittels einer Sprühdose selbst als Teil des so entstandenen Kunstwerks integriert.
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