Das rote Zimmer

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Die Liebe als Experiment, Märchen und sommerliche Utopie

Man glaubt es kaum, doch die wissenschaftliche Disziplin der Philematologie gibt es tatsächlich. Wer diese Berufsbezeichnung auf seiner Visitenkarte stehen hat, der versteht sich aufs Küssen – zumindest in der Theorie und streng wissenschaftlich. Fred Hintermeier (Peter Knaack) ist Philematologe und wie alle Wissenschaftler (zumindest im Kino) ein eher weltfremder Mensch. Was bei Quantenphysikern und Evolutionsbiologen nicht so sehr ins Gewicht fällt, weil sowieso kein Normalsterblicher etwas vom Forschungsgebiet versteht, ist bei Hintermeier umso tragischer. Denn Küssen, das kann ja jeder. Und fast jeder tut es. Außer eben jenem, der sich damit tagein tagaus beschäftigt. Weil Hintermeier in der Liebe einfach kein Glück hat: Die Frau ist ihm weggelaufen und kann es sich nicht mal nach erfolgreich absolviertem Scheidungstermin vor dem Gericht verkneifen, ihrem Ex noch tüchtig verbal eine überzubraten.
So genau weiß man eigentlich gar nicht, warum das mit Fred und den Frauen nicht klappen mag. Sicherlich: Der Wissenschaftler wirkt auf den ersten Blick ein wenig steif und linkisch, doch keinesfalls ist er ein hoffnungslos verklemmter Bücherwurm, sondern vielmehr ein ebenso attraktiver wie zurückhaltender Mensch, der bei seinen bisherigen Beziehungen offensichtlich nicht allzu viel Glück hatte. Was ihm sogar von der Scheidungsrichterin als abschließende Bemerkung mit auf den weiteren (Lebens)Weg gegeben wird. Das ändert sich erst, als er in einer Buchhandlung zufällig der Schriftstellerin Luzie (Katharina Lorenz) begegnet, die sich gemeinsam mit ihrer Freundin Sibil (Seyneb Saleh) auf Männerfang befindet. Wie Fred, so sind auch die beiden Frauen (Er)Forscherinnen der Liebe. Wobei es ihnen weniger um die Ausschüttung von Hormonen und körpereigenen chemischen Transmittern geht, sondern um das, was die Wissenschaft nur unzureichend erfassen kann – um die Emotionen, die Seele der Männer. Sofern diese überhaupt eine haben.

Weil gerade (praktischerweise) Semesterferien sind, folgt Fred der Einladung Luzies, sie im vorpommerschen Klein-Blittersdorf zu besuchen, wo sich die beiden Frauen den Sommer mit träge-spielerischem laissez-faire vertreiben. Durch den Besuch des Mannes, der sich zunächst mit einem weiteren Kandidaten messen muss, der aber bald in die Wüste der Stadt zurückgeschickt wird, erweitert sich das bislang vorwiegend homoerotische Verhältnis der beiden Frauen zueinander um eine weitere Facette. Weil Geschlechter und Konstellationen in ihrem spielerischen Umgang miteinander und mit den Körpern (den eigenen wie den fremden) eigentlich gar keine Rolle mehr spielen, werden die Übergänge fließend. Je länger Fred bleibt, umso mehr finden die beiden Frauen Gefallen an ihm. Was in anderen Filmen zu einer Tragödie geraten würde, gerät bei Rudolf Thome nun zunehmend zu einer erotischen Utopie, die schließlich ein einem Liebesvertrag mündet, mit dem alle drei Beteiligten leben können…


Auch in seinem neuesten Film Das rote Zimmer variiert Rudolf Thome, der vielleicht unermüdlichste Autorenfilmer deutscher Herkunft, seine Themen, die ihn seit vielen Jahren und Jahrzehnten umtreiben – die Unmöglichkeiten von Liebe und Beziehungen, die Suche nach dem Glück, die Stärken der Frauen und die Schwächen der Männer und all das, was es sonst noch so über das Liebesleben beinahe ganz normaler Menschen zu sagen gibt. Und über allem schwebt wie oft bei Thome die Farbe Rot: Sie taucht das Zimmer in dem Haus auf dem Land in ein glühendes und anheimelndes Licht, das so gar nichts von der Plüschigkeit eines etwas anrüchigen Etablissements hat. Bei aller sexuellen Freizügigkeit ist Thomes Film eigentlich eine sanft erotische und manchmal hinreißend naive Liebeskomödie, die es wagt zu träumen, wie ein Leben jenseits der Monogamie aussehen könnte.

Auch stilistisch vertraut Thome auf die seit langem erprobten Mittel: Die überaus bemerkenswerte Kameraarbeit von Ute Freund, die verschmitzte Montage (Beatrice Babin), die stets zur rechten Zeit einen Schnitt setzt, um den Personen und Handlungen bei aller Nähe noch einen Rest von Geheimnis zu lassen, der unaufdringliche Musikeinsatz, das Pendeln zwischen Ernsthaftigkeit und Komik, mildem Spott und großer Zärtlichkeit, das unterschiedslose Nebeneinanderstellen von Banalem und Existenziellem. Während andere Regisseure aus diesem Spiel bitterbösen Ernst gemacht hätten, bleibt Thome stets optimistisch, dass sich am Ende selbst die verzwicktetsten Konstellationen noch in Wohlgefallen auflösen. Sein Liebesfilm ist ohne jeden Zweifel neben der Komödie vor allem auch ein Märchen – und zwar eines mit einem guten Ende. Und wenn sie nicht gestorben sind, meint man am Ende fast auf der Leinwand zu lesen, dann lieben sie sich noch heute…

All das ergibt einen wundervoll schwebenden Film, der bei allem Realismus die Realitäten allerhöchstens als Basis für Gedankenflüge, tänzelnde Utopien und sommerlich-träges Dahinfließen nimmt und daraus einen durch und durch französisch anmutenden Film in der Tradition großer auteurs wie Eric Rohmer oder Francois Truffaut zaubert, den man zu den besten Werken Thomes zählen möchte. Eine Ausnahmeerscheinung im deutschen Kino ist der Mann ja sowieso schon lange. Es wird höchste Zeit, dass dies endlich einmal im angemessenen Rahmen wertgeschätzt wird.

Das rote Zimmer

Man glaubt es kaum, doch die wissenschaftliche Disziplin der Philematologie gibt es tatsächlich. Wer diese Berufsbezeichnung auf seiner Visitenkarte stehen hat, der versteht sich aufs Küssen – zumindest in der Theorie und streng wissenschaftlich. Fred Hintermeier (Peter Knaack) ist Philematologe und wie alle Wissenschaftler (zumindest im Kino) ein eher weltfremder Mensch.
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