Das Labyrinth der Wörter

Eine Filmkritik von Lida Bach

Die Vorleserin

Neunzehn sind es. Neunzehn Tauben, die im Park vor Germain Chaze (Gerard Depardieu) sitzen, doch der unbeholfene Arbeiter braucht lange, um die Vögel zu zählen. Fast ungebildet und nur mäßig intelligent ist Germain, der seit seiner Kindheit als Idiot beschimpft wird. Mit „Dummkopf“ oder „Tölpel“ ließe sich auch der Titel von Marie-Sabine Rogers Roman La tête en friche übersetzen, der als Vorlage für diesen Film von Jean Becker diente. Doch die französische Autorin hätte kaum selbst den Weg durch Das Labyrinth der Wörter zu ihrer feinfühligen Bücherromanze gefunden, wenn sie nicht auch die doppelte Bedeutung des Titelbegriffs im Sinn gehabt hätte. Denn „en friche“ bedeutet eben auch „brachliegend“ und hält damit die Möglichkeit bereit, dass das unbearbeitete Land unter einer kundigen Hand zur Blüte gelangen könne. Regisseur und Drehbuchautor Jean Becker zaubert in seiner cineastischen amour fou mit dem „Labyrinth der Wörter“ die versteckte Bedeutung zwischen den Zeilen auf die Leinwand.
Mit einer Hand könne er sie zerbrechen, sagt Germain einmal über die alte Frau in der rosafarbenen Strickjacke, die sich eines Tages zu ihm auf die Parkbank setzt. Rein äußerlich mögen der hünenhafte Kerl und die grazile Margueritte (Gisèle Casadesus) ein kurioses Paar abgeben. Doch hinter der kuriosen Erscheinung verbergen sich verwandte Seelen: Beide glühen innerlich vor Liebe zur Literatur. Nur ahnt Germain eben noch nichts von seiner Leidenschaft. Gedrucktes und komplizierte Begriffe sind dem Beinahe-Analphabeten ein Graus. Magueritte „mit doppeltem T“ hatte selbst einen grammatikalisch schwächelnden Vater, wie ihr Name verrät. Aus Albert Camus‘ La Peste liest die Dame in Rosa Germain vor. Eine belletristische Feuerprobe, an der sich manche bewanderten Leser die Finger verbrennen. Doch Camus‘ Romanpassage vom Tod unzähliger Ratten erschafft eine neue, nämlich eine Leseratte, auch wenn diese zunächst nur passiv liest: Germain. Doch sein Lauschen auf ihr Vorlesen, weiß Margueritte, ist auch ein Teil des Lesens. Jeden Tag schenkt der Besuch der alten Dame Germain fortan ein neues Stück Literatur und somit Kultur und Bildung. Seine Kollegen sind ganz vor den Kopf gestoßen von dem vermeintlichen Dummkopf, der sich mit Wissen füllt.

Der Bücherwurm Margueritte weist dem unter der harten Schale verunsicherten Germain den Eingang in Das Labyrinth der Wörter. Den Weg darin zu Abenteuergeschichte, Novelle oder Lyrik lässt sie ihn selbst erkunden und weckt so seine Liebe zum Geschriebenen, bevor er überhaupt richtig lesen kann. Sie erkennt, dass Germain nicht der Idiot ist, als der er von klein auf verhöhnt wird, er hat lediglich einen „brachliegenden Kopf“. Hat man nahrhafte Erde, brauche es keinen Dünger, um etwas wachsen zu lassen, erklärt der leidenschaftliche Gärtner Germain seiner Mentorin. Ein Saatkorn, wie es Margueritte in seinen Geist pflanzt, genügt.

Die großartige Darstellerin der greisen Belesenen ist Gisèle Casadesus. In Wahrheit ist sie keine 95 Jahre alt, sondern bereits ein klein wenig älter. Doch als Margueritte „mit dem doppelten T“ blüht sie dennoch voller Jugendfrische und Esprit, so dass es nahezu unvermeidlich ist, sich in sie zu verlieben wie Germain es tut. Ein Liebesfilm ist Jean Beckers mit leisem Humor und einer Spur Tragik inszenierte Menage-à-trois von Vorleserin und Zuhörer, die schließlich die Rollen tauschen. Am Ende ist es Germain, der Margueritte durch Das Labyrinth der Wörter leitet.

In Liebesgeschichten ist nicht unbedingt immer viel Liebe zu finden. Manchmal nicht einmal ein Liebesgeständnis, sagt Germain: „Und dennoch liebt man sich.“ Auch die Liebe ist in der nachdenklichen und feinsinnigen Romanze ebenso wie die Literatur ein verästelter Irrgarten und hängt eng mit dieser zusammen. Die Liebe zum Lesen wird zur (platonischen) Liebe zu Margueritte, zum Lernen und Lehren ohne belehrend zu sein, bis sie zuletzt in Germain die innige Liebe zum Leben weckt. Mit zärtlichem Charme lädt Das Labyrinth der Wörter zum Erkunden ein. Wenn der Film vorüber ist, kann man diese Entdeckungsreise auf den Seiten von Marie-Sabine Rogers La tête en friche fortsetzen. Jean Becker hätte es wohl nicht anders gewollt.

Das Labyrinth der Wörter

Neunzehn sind es. Neunzehn Tauben, die im Park vor Germain Chaze (Gerard Depardieu) sitzen, doch der unbeholfene Arbeiter braucht lange, um die Vögel zu zählen. Fast ungebildet und nur mäßig intelligent ist Germain, der seit seiner Kindheit als Idiot beschimpft wird.
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Meinungen

Monika · 20.02.2011

Endlich wieder ein Film, der Mut macht, dass auch Menschen, die keine Schulbildung haben Intelligenz, Herz, Mut, Talent, Humor und Durchhaltevermögen besitzen. Ein wunderbares Buch, ein wunderbarer Film, hervorragende Darsteller, ich war berührt und verzaubert. Es lohnt sich auch das Buch zu lesen. Der kleine Prinz hat eine märchenhaften, poetische, tiefgründige Botschaft. Das Labyrinth der Wörter gehört für mich dazu, eine Hymne und Botschaft für das Leben, die Liebe, die Bücher, die Fantasie, die gesellschaftlichen Beziehungen! Der Film ist mit Depardieu und der liebenswerten alten Dame hervorragend besetzt! Herrlich!

Claudia · 17.02.2011

Ein ruhiger, feinfühliger und tiefsinniger Film, mit viel Tiefgang, in dem man aber auch Lachen kann. Die alte Dame ist einfach wunderbar, intelligent, humorvoll und motivierend.
Auch wenn dieser Film nie unter die TOP10 kommen wird - dazu fehlt im Action und Pyrotechnik, Geballer und Mord - er ist weit aus besser, als alles, was ich in den letzten Jahres aus Hollywood und Co. gesehen habe.
Absolut empfehlenswert!

Henri · 16.02.2011

Schöner Film, mit viel Sentimentalität.
Ich liebe Depardieu. Grandiose

s.tekeste · 05.02.2011

Ein ausergewöhnlich guter film....
eine tolle geschichte mit toller besetzung ohne chichi.

R. Wahl · 29.01.2011

Ein wunderbarer poetischer Film, in dem die Liebe in all ihren Erscheinungsformen dargestellt wird. G. D. Überzeugt in seiner Rolle ohne jede Einschränkung!

Elke Mögenburg · 27.01.2011

Der Film ist zwar gut gespielt, hat aber inhaltlich einige Schwächen. Personenzeichnung ist nicht immer überzeugend gelungen.