Avenida Argentina

Eine Filmkritik von Peter Gutting

Eine argentinische Nacht

Millionenstädte haben ihren eigenen Rhythmus. Sie schlafen nachts nie, aber sie leben auch nicht so wie am Tag. Sie geraten in einen eigenartigen Zwischenzustand – genau wie die Menschen, die die Nacht zum Tag machen. Dokumentarfilmerin Lucia-Milena Bonse hat in Buenos Aires diese Stimmung wunderbar eingefangen. Avenida Argentina folgt der Chronologie einer Nacht, von der Dämmerung bis zum Sonnenaufgang. Er zeigt vier Schicksale, die sich nur manchmal zufällig kreuzen. Da ist zunächst eine Transsexuelle, die sich am frühen Abend schön macht, von Mitternacht bis gegen drei ihre Sexdienste im Internet anbietet und anschließend in die Disco geht. Außerdem begegnen wir dem politischen Aktivisten, der Plakate klebt und linke Botschaften an die Wände sprüht. Wir sehen eine junge Frau, die mit ihrer Mutter und dem kleinen Sohn den Müll nach allem durchforstet, was sich noch zu Geld machen ließe. Und schließlich sind da drei junge Mädchen aus der Mittelschicht, die einen draufmachen wollen. Merkwürdigerweise ist also nur das Girl-Trio zum Vergnügen unterwegs. Die anderen tun etwas, was man Arbeit nennen könnte, weil es mit Geldverdienen und oder zumindest einer Aufgabe zu tun hat. Aber es ist eine Arbeit besonderer Art, sehr viel selbstbestimmter als viele Tätigkeiten bei Tag. Sogar die junge Müllsammlerin aus dem Slum nimmt es wie ein selbstverständliches Schicksal hin, dass sie jeden Abend mit dem Vorortzug in die reiche Innenstadt fährt, um dort von dem zu leben, was die Wohlhabenden nicht mehr brauchen. Schließlich ist sie nicht die Einzige. Bei der Anreise und der Rückfahrt sehen wir ganze Gruppen von Menschen, die alle derselben Beschäftigung nachgehen.
Es ist die Art, wie die vier Schicksale miteinander verwoben werden, die Avenida Argentina zu einer sehenswerten Dokumentation macht. Die Montage verknüpft die verschiedenen Wege auf assoziative Weise und folgt dabei dem Rhythmus der Nacht. Mal atmet der Film heftiger, dann folgen ruhigere Szenen, so ähnlich wie sich heftig flackernde Träume mit tieferen Schlafphasen abwechseln.

Lucia-Milena Bonse bleibt ganz bei ihren Personen, zeigt uns, wie sie leben und warum. Gerade dadurch entsteht auch ein Panorama der Stadt, mit ihren enormen Gegensätzen, ihren Triumphen und Niederlagen, ihren Verlockungen und Abstürzen. Die junge Regisseurin, die inzwischen als Redakteurin beim Kleinen Fernsehspiel des ZDF arbeitet, kennt die Stadt gut. Während ihres Studiums verbrachte sie ein Jahr in Buenos Aires und ließ sich von den argentinischen Nächten faszinieren. Avenida Argentina ist ihre Diplomarbeit an der Münchner Filmhochschule.

In dem schillernden Zwischenreich der Straßenleuchten, der Autolichter und Reklameröhren gedeihen die Wachträume besser als am Tag. Daher ist es nur folgerichtig, dass die Regisseurin ihre Protagonisten am Ende nach ihren Träumen fragt. Die Antworten handeln vom kleinen Glück und sind eigentlich gar nicht so entscheidend. Viel wichtiger ist diese eigenartige Stimmung, die die Nacht vom Tag scheidet. Sie schafft den Nährboden, auf dem womöglich noch viel mehr Träume gedeihen.

Avenida Argentina

Millionenstädte haben ihren eigenen Rhythmus. Sie schlafen nachts nie, aber sie leben auch nicht so wie am Tag. Sie geraten in einen eigenartigen Zwischenzustand – genau wie die Menschen, die die Nacht zum Tag machen. Dokumentarfilmerin Lucia-Milena Bonse hat in Buenos Aires diese Stimmung wunderbar eingefangen.
  • Trailer
  • Bilder

Meinungen