Alphabet

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

Das vernachlässigte Bildungsziel Kreativität

In China beneiden Schüler ihre Eltern, weil diese am Wochenende ausschlafen und fernsehen können. Von ihnen wird hingegen erwartet, dass sie von früh bis spät pauken, nicht nur um Bestnoten zu erzielen, sondern auch um bei Wettbewerben wie den Mathematik-Olympiaden zu siegen. China belegt die Spitzenplätze bei den PISA-Studien, aber gleichzeitig ist Suizid die häufigste Todesursache junger Menschen im Land. Der Erziehungswissenschaftler Yang Dongping prangert den permanenten Prüfungsstress chinesischer Schüler als Widerspruch zur Natur des Menschen an. Er erzeuge Angst und töte die Kreativität ab. China ist aber nur ein Extrembeispiel für eine weltweite Entwicklung, in der die Leistungsgesellschaft bereits die Kindheit durchdringt.
Der österreichische Filmemacher Erwin Wagenhofer beendet mit seinem lebhaften Plädoyer für eine grundlegende Reform der Bildung die Dokumentarfilmtrilogie, in der er sich kritisch mit Auswüchsen des Wirtschaftswachstum und der Profitmaximierung auseinandersetzt. Sie begann 2005 mit We Feed the World und wurde 2008 mit Let’s Make Money fortgesetzt. In Alphabet fordert er eine Abkehr von der normierten, quantitativen Bildung aus zweierlei Perspektiven: Experten wie der Hirnforscher Gerald Hüther betonen, dass kognitives Denken nur eine der Begabungen ist, die Kinder mitbringen und entfalten wollen. Und der langjährige frühere Personalmanager Thomas Sattelberger verweist auf die steigende Bedeutung von innovativem Denken und alternativen Problemlösungen. So schlägt Wagenhofer einen Bogen zwischen der Bildungsmisere und dem an seine Grenzen stoßenden Konzept permanenten Wirtschaftswachstums.

Die ausgreifende, global angelegte Dokumentation wartet mit einigen sehr interessanten Fundstücken auf, die eindrücklich an das kindliche Bedürfnis erinnern, die Umwelt eigenständig und vertrauensvoll erforschen zu dürfen. Die Förderung der Kreativität etwa bei dem vom Pädagogen Arno Stern entwickelten Malspiel wird mit dem Alltag eines chinesischen Jugendlichen kontrastiert, der in der Mathematik-Nachhilfestunde mit der Erschöpfung kämpft. Sein Leid und der Stolz seiner Mutter auf seine Urkunden belegen, wie recht der Pädagogikprofessor Dongping hat, wenn er sagt: „Die Mathematik-Olympiade ist ein Desaster für Jugendliche.“ Höchst interessant ist auch die Kritik gerade eines erfahrenen Personalmanagers daran, dass junge Menschen ihre ganze Zukunft auf eine normierte Karriere ausrichten, anstatt sich dem überzogenen Leistungsdruck zu verweigern.

Es ist außerdem wichtig, wenn Pablo Pineda Ferrer, der erste Europäer mit Downsyndrom, der einen Universitätsabschluss erzielt hat, im Film zu Wort kommt. Aber Wagenhofers Dokumentation enthält auch viele Behauptungen und Einzelbefunde, die nicht ausreichend erklärt und konkretisiert werden, um sie für Unterrichtskonzepte verwerten zu können. So wird vom sensationell anmutenden Ergebnis einer Langzeitstudie gesprochen, wonach fast alle Kleinkinder hochbegabt im unangepassten Denken sind. Mit zunehmendem Alter lässt diese Fähigkeit schrittweise nach – was im Film als Beleg für den schlechten Einfluss der Schule herhalten soll. Arno Sterns Sohn André, ein Musiker und Gitarrenbauer, erzählt von seiner glücklichen Kindheit ohne jeglichen Schulbesuch. Dabei kann sein Beispiel aber sicherlich nicht zur breiten Nachahmung empfohlen werden. Bildungsstandards, wie sie der PISA-Experte Andreas Schleicher aufstellt, finden bei Wagenhofer wenig Anklang. Wenn Schleicher ausgerechnet in China bewundernd feststellt, „Wir sehen, dass es wirklich möglich ist, aus allen Kindern sehr sehr viel herauszuholen“, dann klingt das im filmischen Kontext etwas abschreckend. Dabei kann eine solche Aussage auch als Bestätigung des Bildungswegs von Pablo Pineda Ferrer interpretiert werden und als Kritik an einem auf Auslese aufgebauten Schulsystem wie dem deutschen.

Alphabet

In China beneiden Schüler ihre Eltern, weil diese am Wochenende ausschlafen und fernsehen können. Von ihnen wird hingegen erwartet, dass sie von früh bis spät pauken, nicht nur um Bestnoten zu erzielen, sondern auch um bei Wettbewerben wie den Mathematik-Olympiaden zu siegen. China belegt die Spitzenplätze bei den PISA-Studien, aber gleichzeitig ist Suizid die häufigste Todesursache junger Menschen im Land.
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Meinungen

Sabine · 30.01.2014

Mir hat der Film sehr gut gefallen.

Michelle · 15.01.2014

Ich fand den Film absolut phantastisch. Genauso ist die Realität.
Jegliche Kreativität und eigenes Denken wird durch Schule systematich zerstör und abtrainiert. Danke, Herr Wagenhofer für diesen Film. Sollte Pflicht sein für alle Lehrer.

@Snezena · 25.11.2013

"american" and "culture" together in one sentence kind of makes me giggle. The rest of your review makes me laugh out loud - sorry!

@Snezana · 25.11.2013

The two films have absolutely nothing in common, apart from the title. And, by the way, Erwin Wagenhofer is Austrian...

Snezana · 24.11.2013

I don't get how the authors in Germany can become so popular stealing other peopels idea... To be inspired of great minds of american culture is more then ok (we all do learn from our ancistors), but they schould have at least changed the title of their documentary...

Let’s take you back to the beginning of David Lynch’s career. Above, we’re back in 1968, and we’re featuring Lynch’s second short film. “The Alphabet,” which won an award by the American Film Institute, has been released on DVD along with five other early short films.

Mchl · 14.11.2013

Der film macht die Entwicklung deutlich, dass Schule die Menschen vereinheitlicht. Sicherlich nicht in der Grundschule. Jeder darf seine Laterne gestalten wie er will. Fragen Sie aber mal einen Abiturienten oder einen Studenten, wie viel Eigeninitiative er einbringen kann. Wie viel Freizeit er hat um sich wirklich persönlich zu entfalten. Bestes Beispiel: Kaum ein 18 Jähriger kann ein Instrument spielen oder ist anderweitig kreativ begabt. Aber alle sind mit Bilanzen vertraut. verstehen Statistiken und sind bereit und vorbereitet die nächsten 60 Jahre zu arbeiten.
Hochbegabung Gone!

Susan · 31.10.2013

Kann den Grundtenor nicht verstehen. Früher war Schule viel autoritaerer und hat viel mehr Formales gefordert. Fuer China mag das ja heute noch zutreffen, aber die Autoren haben noch nie eine deutsche Grundschule von innen gesehen - wie es scheint.