Absolute Wilson

Eine Filmkritik von Marie Anderson

Der Künstler und sein Werk

Es ist eine viel diskutierte Fragestellung, ob und inwieweit es für das Verständnis eines Werkes wünschenswert oder gar notwendig ist, etwas über die Lebensgeschichte des Künstlers zu wissen. Gibt es dabei zum einen Künstler, deren Biographie einer breiten Öffentlichkeit bekannt ist, so ist über andere wiederum nahezu nichts Persönliches zu erfahren. Der US-amerikanische Architekt, Bühnenbildner, Maler und nicht zuletzt Theaterregisseur und –autor Robert Wilson gehörte eindeutig zu den diesbezüglich überwiegend verschlossenen Künstlern, bis sich die Hamburger Filmemacherin Katharina Otto-Bernstein über fünf Jahre hinweg immer wieder an seine Fersen heftete und dabei eine Dokumentation seines Wirkens, aber auch seiner persönlichen Geschichte schuf, die nun als Absolute Wilson bei uns in den Kinos zu sehen sein wird.
Visionär, Avantgardist und Revolutionär der Theaterwelt sind Bezeichnungen, mit denen Robert Wilson, der in diesem Oktober 65 Jahre alt wird, nur allzu häufig betitelt wird, denn seine Inszenierungen sprengen in ihrer spektakulären Art und Weise immer wieder den Rahmen dessen, was uns herkömmlich als Bühnenstück geläufig ist. Man denke nur an die stumme, ursprünglich siebenstündige Oper Deafman Glance (1970) über die Wahrnehmungsformen von Taubstummen oder die metaphorische Zeitreflexion Einstein on the Beach (1976) gemeinsam mit Philip Glass, die wie kaum ein anderes Werk das moderne Opernterritorium inspiriert und grundlegend beeinflusst hat. Wie vielseitig das Spektrum seines Engagements sich gestaltet, zeigt neben vielen Inszenierungen klassischer Stücke auch seine Zusammenarbeit mit Musikern wie Tom Waits (The Black Rider 1990), Lou Reed (Time Rocker 1996) und Herbert Grönemeyer (Leonce und Lena 2003), die bereits mehrere Projekte mit ihm auf die Bühne gebracht haben.

Was für ein Mensch ist aber dieser Wilson, der so unermüdlich und vielseitig kreativ tätig ist? Für Absolute Wilson hat Katharina Otto-Bernstein diesen ungewöhnlichen Künstler an seinen Wirkungsstätten in der ganzen Welt aufgesucht, um sich langsam, aber stetig diesem privat wenig mitteilsamen Mann und seiner Lebensgeschichte zu nähern. Und dabei ist eine dynamische Kombination aus Archivmaterial seiner Aufführungen, Interviews mit Wilson selbst und Erzählungen von Freunden, Fans und Kollegen entstanden, darunter auch prominente Weggefährten wie die Musiker David Byrne und Tom Waits, der Komponist Philip Glass, der Theaterkritiker John Rockwell, die Opernsängerin Jessye Norman und die 2004 verstorbene Publizistin Susan Sontag.

Doch am eindringlichsten innerhalb dieser ebenso humorvollen wie spannenden Dokumentation berührt die ganz persönliche Geschichte des Kindes und des jugendlichen Robert, der als extrem zurückhaltender, sprach- und lernbehinderter Einzelgänger im konservativen und rassistischen Texas der 1940er und 1950er Jahre aufwuchs. Erst durch eine schicksalshafte Begegnung mit der Ballett-Lehrerin Byrd Hoffman gelang es dem jungen Wilson, seine enormen Lernschwierigkeiten in den Griff zu bekommen, denn sie zeigte ihm eine Methode, mit der er Eindrücke von außen an seine eigene Geschwindigkeit der Wahrnehmung anpassen konnte, die sein Leben nachhaltig veränderte.

Die 1960er Jahre verbrachte Robert im künstlerisch turbulenten New York, wo er zum einen Architektur studierte und zum anderen in die faszinierende Welt des Designs, Tanzes und vor allem des Theaters einstieg. Zunächst verdiente sich Wilson dort seinen Lebensunterhalt mit der Betreuung geistig und körperlich beeinträchtigter Kinder, was sich zu einer engagierten Passion auswuchs. Ende der 1960er Jahre adoptierte er den vernachlässigten taubstummen Raymond Andrews, der seinem Leben eine ganz neue Wendung verlieh und ihn auch zu seinem ersten internationalen Erfolg Deafman Glance inspirierte. Ende der 1960er Jahre gründete er die „Byrd Hoffman School of Byrds“, wo er Theaterperformanzen als Therapieform entwickelte und etablierte, und noch heute ist der Umgang mit diesen ganz besonderen Menschen sowie ihren Kommunikationsformen ein wichtiger Bestandteil seiner Inspiration und Arbeit.

Absolute Wilson folgt dem Ziel, das Werk eines der ungewöhnlichsten Künstler unserer Zeit auf dem Hintergrund seiner Lebensgeschichte zu verstehen, über die vorher seinem Publikum kaum etwas bekannt war. Dabei fügen sich persönliche Erlebnisse mit künstlerischen Aktivitäten zu einem gelungenen Gesamtkunstwerk von bewegender Authentizität zusammen, die einen wichtigen Grundsatz Robert Wilsons bestätigt, der ihn als wahrhaftigen und unablässigen Künstler charakterisiert: „Es gibt keinen Unterschied zwischen dem Leben und der Arbeit. Es ist alles Eins.“

Absolute Wilson

Es ist eine viel diskutierte Fragestellung, ob und inwieweit es für das Verständnis eines Werkes wünschenswert oder gar notwendig ist, etwas über die Lebensgeschichte des Künstlers zu wissen.
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