1001 Gramm

Eine Filmkritik von Stephan Langer

Stiller Bericht aus der skalierten Welt

Marie (Ane Dahl Torp) ist Wissenschaftlerin. Ihr Leben spielt sich in den zuverlässigen Maßeinheiten von Gewichten und Längen ab, arbeitet sie doch im norwegischen Eichamt, jener Behörde, die sich für nationale Messstandards verantwortlich zeigt. Solch ein Setting der Geschichte klingt schon sehr nach einer Geschichte von Bent Hamer. Soweit ist das richtig, das Neue bei Hamers Neuem 1001 Gramm ist nun, dass er sich mit Marie als Hauptcharakter zum ersten Mal einer Frau widmet, nachdem in seinen früheren Filmen stets Männer die Hauptrolle spielten. Deren Porträts waren immer eine humorvolle Kritik an einem in Norwegen prominenten Männlichkeitsbild, das einem heroischen Individualismus frönt. Ungehobelte Typen pendelten stets zwischen ausgeprägter Unabhängigkeit und melancholischer Einsamkeit, waren dabei allerdings immer auf eigenartig komische Weise ihrer Sturheit erlegen.
Ähnliches könnte auch über die emanzipierte Marie gesagt werden: sie verrichtet ihre alltäglichen Handlungen nach einer bewussten Systematik, sie wohnt in einer architektonisch penibel arrangierten Nachbarschaft, in der jedes Haus wie ein Klon des jeweils nächsten aussieht. Der einzige Fremdkörper in diesem Leben ist ihr Ex-Mann, der nach und nach seine Möbel aus der gemeinsamen Wohnung abholt und ihr den gewohnten Parkplatz blockiert, wenn sie von der Arbeit kommt. Analog zu besagten Männerfiguren lebt Marie ihre persönliche Eigenständigkeit innerhalb eines strengen Systems, das sich in der ausgeklügelten Gesamtästhetik des Films wiederfindet.

Norwegen und Paris sind die beiden Handlungsschauplätze von 1001 Gramm. Analog zum Übergewicht, das Paris im Laufe der Handlung erlangt, gelangt immer mehr Emotionalität in die Figuren und ihre Handlungsweisen. Konsequenterweise balanciert dann auch die Farbpalette zu Beginn zwischen kühlen, kräftigen Blautönen und hellem Weiß, um im weiteren Verlauf wärmeren Orangetönen ihren Platz zuzugestehen. Zusammen mit dem geometrisch sehr präzisen, fast schon manisch auf Symmetrie bedachten Setdesign, stilisiert die ähnlich gestaltete Kamera Marie oftmals zur einsamen Protagonistin innerhalb nüchterner Umgebungen. Wenn sie zu Hause in ihrer spärlich eingerichteten Wohnung sitzt, ist sie manchmal nur noch als schwache Silhouette zu erkennen. Während der Raucherpausen bei der Arbeit im Eichamt wirken Marie und ihre Kollegen in den streng fotografierten Bildern stellenweise wie Versuchskaninchen in einem groß angelegten, bürokratischen Labyrinth, so sehr sind sie von strenger Geometrie und Fluchtachsen eingerahmt.

Allgemein lässt sich sagen: Menschen bestimmen ihre Umgebungen und werden in der Folge oftmals von den geschaffenen Umgebungen bestimmt. Genauso haben die Menschen mathematische und physikalische Referenzen definiert, um in der Unendlichkeit der Welt nicht den Überblick zu verlieren. Diese theoretischen Gedanken laufen konstant im Hintergrund von 1001 Gramm. Einst waren unsere Körper die Referenzpunkte für Maße. Heute sind es Atome und die Quantenmechanik, die Maße und Gewichte bestimmen. Hamer behandelt mit seinem Film die ehrenwerte Ausnahme: das Kilo. Jenes Urkilo von 1889, die Mutter aller Kilos, ist die letzte Gewichtsreferenz, die noch physisch vorhanden und im Einsatz ist. Figuren und Handlung bewegen sich innerhalb eines Graubereichs, der gerahmt ist von der Sicherheit wissenschaftlicher Bestimmungen einerseits und der Unsicherheit menschlich-emotionaler Orientierung andererseits. Sind mathematisch geschaffene Konstanten veränderbar oder ewig? Wie kann mit dem Leben oder der Liebe das nicht Messbare gemessen oder definiert werden? Marie und ihre Kollegen bewegen sich als Wissenschaftler auf analytisch-rationaler Ebene: in wunderbaren Aufnahmen während des Kilokongresses in Paris versammeln sich Scharen von klugen Wissenschaftlern, von denen jeder aus seinem Land das eigene Kilogramm mitgebracht hat, um das Urkilo voller Urvertrauen zu huldigen wie eine mysteriöse Gottheit. Danach spazieren sie in einer kleinen Hommage an Magritte mit bunten Regenschirmen wie eine Entenfamilie hintereinander durch den Park.

Über das Innenleben der Figur Marie wird wenig erzählt, das über die streng angelegte Dichotomie des Drehbuchs hinausgeht. Wenn sie an einer Stelle sagt: „Life’s heaviest burden is to have nothing to carry.“, dann beschreibt das vielleicht am ehesten passend ihren rationalen Charakter, der der menschlichen Notwendigkeit folgt, sich an etwas festzuhalten. Die Aussage ist aber auch das Höchstmaß an Subversion, das das Drehbuch der Figur zugesteht. Nachdem sie im Laufe des Films, auch verursacht durch den Tod ihres Vaters mit dem wunderbaren Namen Ernst Ernst (ja, wirklich zweimal), immer mehr von ihrer emotionalen Seite entdeckt und sich ihrer Umwelt öffnet, lernt sie prompt den französischen Wissenschaftler Pi (Laurent Stocker) kennen, der seine Wissenschaftsstelle für einen halbtäglichen Job als Gärtner aufgegeben hat. Kaum lässt sie sich auf ihre Gefühle ein, bemerkt sie in einem selbstreflexiven Moment: „It’s as if every reference point in my life is crumbling away.“ Dies erzählt sie natürlich Pi, der fortan ihr neuer Referenzpunkt ist.

1001 Gramm interessiert sich mit leisem, trockenem Humor und einem Fokus auf liebenswürdiger Menschlichkeit für die Konstanten, die das Leben zusammen halten. Innerhalb des fast schon formelhaft abgesteckten, dichotomischen Rahmen des Drehbuchs, den der Film einnimmt, funktioniert die Geschichte auf eine für Bent Hamer typische Weise: in gedehntem Tempo und stilvollen Arrangements wird eine originelle, leichte Komödie voller Skurrilität und einer Prise melancholischer Tragik erzählt. Ohne dabei allzu viel Worte zu verlieren über den sympathischen Schlamassel, in dem sich die eher störrischen Figuren befinden und der ihnen einiges abverlangt an Energie, um sich da, durch das eigene Leben, hindurch zu winden.

1001 Gramm

Marie (Ane Dahl Torp) ist Wissenschaftlerin. Ihr Leben spielt sich in den zuverlässigen Maßeinheiten von Gewichten und Längen ab, arbeitet sie doch im norwegischen Eichamt, jener Behörde, die sich für nationale Messstandards verantwortlich zeigt. Solch ein Setting der Geschichte klingt schon sehr nach einer Geschichte von Bent Hamer.
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